„Wir treiben uns selbst ins Grab“

Wie wird Geschichte geschrieben? Bestsellerautor Daniel Kehlmann („Die Vermessung der Welt“) befragt Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn („Archipel Gulag“). Ein Dialog über Ursachen des Totalitarismus, Russlands Zukunft und die Macht der Literatur

Sie haben immer wieder etwas scheinbar Paradoxes formuliert: Ihre Erleichterung darüber, dass man Sie in den Gulag geschickt hat, dass Ihnen gewissermaßen Ihr Schicksal aufgezwungen wurde. Sie haben geschrieben, der Gedanke daran, was für ein Schriftsteller Sie ohne Gulag geworden wären, erfülle Sie mit Schrecken. Was für eine Art Schriftsteller wäre das denn gewesen?
Lassen Sie mich zunächst etwas über die entscheidende Rolle des Gulags in meinem schriftstellerischen Leben sagen. Tatsächlich wollte ich bereits 1936, im Alter von 18 Jahren, die Geschichte der russischen Revolution von 1917 ausführlich beschreiben und erläutern. Schon aus diesem fundamentalen Grund konnte ich mich nicht wie ein loyaler sowjetischer Autor entwickeln. Doch das, was mir mit dem Gulag zuteil wurde, hatte über die Jahre hinweg eine große Auswirkung auf meine Ansichten und Überzeugungen. Es eröffnete mir eine völlig klare Einsicht in all das, was Bolschewismus, was sowjetischer Kommunismus war, und das hat mir schließlich tiefste Einsichten in die Bedingungen des menschlichen Daseins ermöglicht.

Sie haben mehrmals geschrieben, dass die dunkle Erfahrung des zwanzigsten Jahrhunderts etwas war, das Russland gewissermaßen stellvertretend für die Menschheit durchlaufen musste. Andererseits geht es im „Roten Rad“ immer wieder um die Vermeidbarkeit der Katastrophe und darum, wie leicht die Geschichte einen ganz anderen Verlauf hätte nehmen können. Meinen Sie wirklich, dass dieses ungeheure Leiden etwas Notwendiges hatte, oder könnte es ebenso gut völlig sinnlos gewesen sein? Oder, theologisch ausgedrückt: Hat Gott das gewollt?
Die zehn Bände des „Roten Rads“ umfassen nur die Februarrevolution des Jahres 1917 (natürlich mit ihren Vorläufern aus dem Jahre 1905 und den Anknüpfungen aus dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts). Ich bemühte mich darum, nicht nur sämtliche soziale Umstände zu verfolgen, die zu der Revolution führten, sondern auch das ungewöhnliche Zusammentreffen jener Umstände im Februar 1917 aufzuspüren, ohne die es nicht zu der Revolution gekommen wäre. Doch die bolschewistische Umwälzung im Oktober 1917: Sie war ja schon die direkte und vollkommen unausweichliche Folge der Februarrevolution. Hat Gott nun diese Entwicklung beabsichtigt? Gott hat uns nie der Gabe der freien Entscheidung beraubt. Wir schaffen selbst unsere Geschichte, wir treiben uns selbst ins Grab. Und die Notwendigkeit oder Sinnlosigkeit der Leiden hängt von der Fähigkeit der Menschen und der Völker ab, daraus auch eine Lehre zu ziehen.
Was nun die Weltgeschichte als Ganzes betrifft, finde ich, dass, hätte es nicht die russische Revolution gegeben, dann unvermeidlich irgendeine ihr ähnliche andere Revolution die Welt erschüttert hätte. (Wie eine Fortsetzung der Französischen Revolution des 18.Jahrhunderts.) Denn die ganze Menschheit muss unweigerlich für den Verlust des Gefühls der Selbstbegrenzung und der Selbstbescheidung ihrer Wünsche und Forderungen zahlen – für die rückhaltlose Gier der Starken und Reichen (der Menschen wie auch ganzer Staaten) und für die Austrocknung wohlwollender menschlicher Gefühle.

Sie sind fasziniert von einfachen, anständigen Menschen, die sich alleine gegen das Chaos stemmen, wie zum Beispiel Ihre Romanhelden Worotynzew oder Matrjona. Aber ist, wenn wir dem Bösen gegenüberstehen, simpler menschlicher Anstand stark genug? Und was ist das Böse? Ist es bloß, wie Augustinus meint, eine Art von Gedankenlosigkeit oder Dummheit? Oder hat es doch eine starke, eigenständige Präsenz?
Gewiss! Einfache und wehrlose Menschen wie Matrjona und Ivan Denisowitsch rufen bei mir große Anteilnahme hervor. Doch noch größere Anteilnahme bringe ich denen entgegen, die als Kämpfer für Gerechtigkeit auftreten. (Viele solcher habe ich in „Der Archipel Gulag“ namentlich erwähnt und beschrieben; solche habe ich ebenfalls im „Roten Rad“ hervorgehoben). Aber nein: Einfache Redlichkeit ist keine ausreichende Antwort auf das Böse in der Welt. Das Böse in der Welt ist ja nicht bloß Wahnsinn oder Dummheit. Es ist ein fester Kern mit einem vektoriell sich ausbreitenden Einfluss. Dagegen muss man aktiv ankämpfen. Und das Böse ist deshalb so stark, weil die Mehrheit der menschlichen Herzen von ihm affiziert oder mit ihm infiziert ist.

Ihre Bücher stehen in der realistischen Romantradition von Tolstoi und Zola. Für mich war es immer verblüffend und auch beglückend zu sehen, dass diese Tradition in Ihren Werken noch so lebendig ist. Waren Sie je eingeschüchtert von all den Theorien, die so selbstsicher behaupten, dass man so nicht mehr schreiben könne?
Die realistische Tradition habe ich mir nicht ausgesucht, sie ist mir vielmehr organisch angeboren. Die marktschreierischen Schlussfolgerungen des zwanzigsten Jahrhunderts – die realistische Tradition sterbe ab, die Gattung des Romans sei „tot“ – haben bei mir nur ein verdutztes Lächeln hervorgerufen.

In „Der erste Kreis der Hölle“ gibt es ständig Diskussionen zwischen dem frommen Sologdin und dem Atheisten Lev Rubin. Gleb Nerzhin, der Protagonist, steht unentschieden zwischen den beiden. Wenn man nun Ihre Entwicklung ansieht, hat man den Eindruck, dass Sie sich von diesem mittleren Standpunkt in Richtung Sologdins bewegt haben. Stimmt das? Identifizieren Sie sich heute mehr mit ihm als damals, als Sie das Buch geschrieben haben?
In dem „Ersten Kreis“ ist der Streit zwischen Sologdin und Rubin – mal abgesehen von der Diskussion um die Gesetze der Dialektik – stark politisiert. Nerzhin, der sich in einem Zustand allgemeiner vorsichtiger Skepsis befindet, hätte sich nicht einmischen sollen. Offenkundig neigt er dazu, ein noch allgemeineres, ja ein kardinales Problem zu betrachten, noch umfangreicher als nur das kommunistische. Weder Nerzhin noch der Autor hat es zu der damaligen Zeit gesehen. Und dennoch erscheint es eins der gewaltigsten intellektuellen Ereignisse zu sein. Seitdem, über die Jahre hinweg, habe ich mich nicht selten dazu geäußert, nämlich: zu dem Verfall der Grundlagen der Philosophie der Aufklärung und des säkularen Anthropozentrismus. (Die weltweiten Auswirkungen dieses Verfalls sind bis heute noch nicht zum vollen Vorschein gekommen.)

Zu den schlimmsten Dingen im letzten Jahrhundert gehört wohl, dass so viele westliche Denker und Schriftsteller die Sowjetdiktatur aktiv unterstützt haben. Im Grunde hat erst Ihr entschlossenes Auftreten und seine weltweite Wirkung daran etwas verändert. Aus diesem Grund haben Sie ja auch ein Treffen mit Sartre verweigert, als er die Sowjetunion besuchte. Gab es wirklich eine „Trahison des clercs“, wie Julien Benda es nannte, also einen Verrat der Intellektuellen an den Werten der Aufklärung?
Die weitverbreitete Unterstützung der kommunistischen Diktatur ab den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts gerade seitens der westlichen Denker ist ein Zeichen und eine Folge jenes Verfalls des säkularen Humanismus: Wir erleiden sie jetzt, und wir werden sie noch in der Zukunft erleiden.
Vermutlich hat kein Schriftsteller seit Voltaire eine so starke politische Wirkung entfaltet wie Sie. Sie waren, um den Titel Ihrer Autobiografie zu zitieren, sozusagen ein Kalb, das eine Eiche umwarf, Sie waren wesentlich daran beteiligt, eine Diktatur zu stürzen. Sie hätten jetzt allen Grund, Genugtuung zu empfinden. Sind Sie zufrieden? Oder gibt es noch Dinge, die Sie vollbringen wollen?
Die kommunistische Diktatur forderte zu einem sofortigen Kampf mit ihr auf. Ich allerdings habe die westlichen Kräfte mehrfach dazu aufgerufen, den Sowjetkommunismus nicht mit Russland selbst und der russischen Geschichte gleichzusetzen. Ach! Viele Kräfte im Westen haben diesen Unterschied nicht gemacht. Und die Politik westlicher Mächte auch nach dem Verfall der sowjetischen Diktatur hat sich in ihrer Grausamkeit gegenüber Russland kaum geändert. Das enttäuscht zutiefst.
Doch noch schlechter verliefen die Ereignisse seit den neunziger Jahren in Russland. Ehe es zu einer nationalen Genesung, moralisch wie wirtschaftlich, kommen konnte, gewannen die dunklen Kräfte schnell die Oberhand; die prinzipienlosen Diebe bereicherten sich durch die ungehinderte Plünderung des nationalen Eigentums und verankerten den Zynismus und den bereits angerichteten sittlichen Schaden noch tiefer in der Gesellschaft. Das war eine Katastrophe für ganz Russland. Ich empfand diese Umwandlungen als sehr schmerzlich. Wie soll ich da von einer „Genugtuung“ reden? Und nun, in meinem siebenundachtzigsten Lebensjahr, dazu noch in einem gesundheitlich schlechten Zustand, fehlt mir die Kraft, einen realen Einfluss auf den weiteren Verlauf der Ereignisse auszuüben.

Zum Schluss die unvermeidliche Frage: Wie sieht Russlands Zukunft aus? Demokratie oder ein autoritärer Staat nach chinesischem Vorbild? Und gibt es noch etwas, das die russische Literatur vom Rest der Weltliteratur unterscheidet?
Ich bin um Russlands Zukunft sehr besorgt. Ich wage keine Vorhersage. Ihre Fragen betreffen vor allem die gesellschaftliche Ordnung. (In der Tat ist sie überaus wichtig, wiewohl die moralische Ordnung noch wichtiger ist.) Was die erwünschte Demokratisierung Russlands anbelangt: Ich habe schon im Jahre 1990 mein eigenes Modell vorgelegt („Russlands Weg aus der Krise“), einen Plan für den allmählichen Aufbau demokratischer Strukturen, ausgehend von der lokalen Selbstverwaltung bis hin zu der staatlichen Ebene. Welch wundervolle Einrichtung, die Aktivität der lokalen Selbstverwaltung in vielen westlichen Staaten ist ein Modell, zu dessen Nachahmung ich meine Landsmänner aufrufe! Ein solches Modell unterscheidet sich von dem im Westen dominierenden Partei-parlamentarismus. (Die Existenz politischer Parteien, die nur damit befasst sind, an die Macht zu kommen, erachte ich nicht als Wohl, sondern als Übel.) Mein Vorschlag hat bislang keine Anteilnahme erfahren. Dennoch würde ich die zukünftige russische Demokratie lieber so sehen, und nicht als eine Lehnübersetzung aus dem Westen. Eine prinzipielle Kluft zwischen der russischen Literatur und den anderen Literaturen der Welt sehe ich nicht.

Übersetzung: Brian Poole

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