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() Thomas Ruttig: „Jede Nichtinformation bietet neuen Stoff für Verschwörungstheorien“
„Al Qaida spielt in der Kampftätigkeit in Afghanistan keine Rolle“

Welche Auswirkungen hat der Tod Osama Bin Ladens auf den Krieg in Afghanistan? Keine, sagt Afghanistanexperte Thomas Ruttig im Gespräch mit Cicero Online. Den Einfluss der Al Qaida auf die Taliban hält er für gering, die Rolle der Pakistani bei der Suche nach Bin Laden für fragwürdig.

Herr Ruttig, welchen Eindruck haben Sie von der Situation in Afghanistan? Wie kommt der Tod Osamas in der afghanischen Bevölkerung an? Präsident Hamid Karzai hat die Nachricht vom Tod Bin Ladens natürlich begrüßt; er ließ verlautbaren, dass die Taliban sich das eine Lehre sein lassen und aufhören sollen, Zivilisten umzubringen. Die Opposition – d.h. die frühere Nordallianz – sieht das erwartungsgemäß etwas anders: Sie verweist vor allem auf die Tatsache, dass Osama in Pakistan gefunden wurde – und das ist es auch, was in Afghanistan ganz allgemein zurzeit die größten Wellen schlägt. Der ehemalige Geheimdienstchef Amrullah Saleh beispielsweise, der sich am deutlichsten äußert, hat richtigerweise darauf hingewiesen, dass seit langem die Forderung im Raum stehe, genauer auf Pakistans Verbindungen mit terroristischen Gruppen zu schauen. Seit langem hatte auch Kabul den Westen aufgefordert, sich um Pakistan zu kümmern, da Terroristen es als Rückzugsgebiet nutzen. Das Pikante ist, dass Karzai sich in den letzten Wochen gerade Pakistan politisch angenähert und in der Folge auch ein paar der jetzigen Oppositionspolitiker, wie den bereits genannten Amrullah Saleh, aus der Regierung entlassen hat. Wie ist der Afghanistankrieg, nachdem man Osama nun in Pakistan aufgefunden hat, weiter zu rechtfertigen, wenn die Erkenntnis mehr und mehr zunimmt, dass die Terroristen sich in anderen Ländern wie Pakistan oder Saudi Arabien tummeln? Erstens begehen die Amerikaner in ihrer Analyse oft den Fehler, Al Qaida und die Taliban in einen Topf zu werfen. Das ist deswegen problematisch, da beide Gruppierungen unterschiedliche Strategien und Taktiken verfolgen sowie einen unterschiedlichen Hintergrund haben. Al Qaida ist eine weltweit operierende Jihadisten-Organisation mit vielen „Zweigstellen“, die sich zum Teil bereits selbstständig gemacht haben. Die Taliban hingegen beschränken sich auf Afghanistan. Zweitens werden auch die Amerikaner zu der Erkenntnis gelangen,dass Al Qaida jetzt auch nicht dadurch zerschlagen wurde, dass man Osama Bin Laden getötet hat. Diskussionen über seine Nachfolge sind ja bereits im Gange. Es wäre eine Kurzschlussreaktion zu sagen: Wir haben unser Ziel erreicht, die Symbolfigur ist erledigt, der Krieg beendet und wir könnten jetzt abziehen. Der Krieg in Afghanistan wird mit dem Tod Osama Bin Ladens nicht zu Ende sein. Welche Auswirkung haben die jüngsten Ereignisse dennoch auf die Situation in Afghanistan? Zunächst einmal: Wir haben es mit zwei unterschiedlichen Kriegen zu tun – der Krieg gegen Al Qaida auf der einen und der Krieg in Afghanistan auf der anderen Seite. Die Taliban, falls sie jemals tatsächlich so eng mit Al Qaida zusammen gearbeitet haben wie oft behauptet wird, haben sich seit langem verselbstständig. Natürlich haben die Taliban diese propagierte Nähe zur Al Qaida auch immer propagandistisch für sich genutzt, haben eine Art Popanz aufgebaut, um den Westen damit zu bedrohen. Aber praktisch spielt Al Qaida in der Kampftätigkeit in Afghanistan keine Rolle: nach US-Militärquellen gibt es nur 100 Al-Qaida-Kämpfer in Afghanistan. Auch die ihr oftmals zugeschriebene Bedeutung, was die finanzielle Unterstützung der Taliban betrifft oder die Vermittlung von Kampftechniken wie Selbstmordanschläge, halte ich für übertrieben. Die Afghanen kämpfen schon seit 30 Jahren, sie haben schon gegen die Sowjets gekämpft, und ich glaube nicht, dass man Ihnen in dieser Beziehung noch viel beibringen kann. Und die Taliban finanzieren sich inzwischen aus der Besteuerung aller wirtschaftlichen Tätigkeiten, die sich in den von ihnen kontrollierten oder beeinflussten Gebieten abspielen, vom Basarhandel bis zur Drogenökonomie sowie den in ihrer Summe milliardenschweren Kontrakten, die die westlichen Truppen vergeben. Letzteres dürfte inzwischen der bedeutendste Posten dabei sein. Wem nutzt ein toter Bin Laden? Für die Amerikaner ist es nach den Geschehnissen vom elften September 2001 vor allem wichtig, dass mit Bin Laden der Hauptdrahtzieher dieser Anschläge ausgeschaltet wurde. Al Qaida wird sicher beeindruckt sein, die Organisation hat ihren Führer und ihre Symbolfigur eingebüßt. Aber strategisch und taktisch wird sich am Kampfgeschehen in Afghanistan nichts ändern. Wie kann das Auffinden Bin Ladens eigentlich als Erfolg verkauft werden, wenn es zehn Jahre braucht, um den Al-Qaida-Chef wenige Kilometer entfernt von einer Militärakademie in seiner Villa in Pakistan ausfindig zu machen. Inwiefern wurde er auch geschützt? Ich finde es nachvollziehbar, dass man eine Weile gebraucht hat, um über Kuriere an Bin Laden heranzukommen. Aber ein wirklicher Erfolg ist das nach zehn Jahren natürlich nicht, vor acht Jahren wäre das noch anders gewesen. In Pakistan ist es aufgrund der engen sozialen Netzwerke sehr sehr schwierig jemanden zu finden, der nicht gefunden werden will. Aber ich glaube vor allem, dass die pakistanische Obstruktionspolitik gegenüber dem Westen ein entscheidender Faktor dafür gewesen ist, dass die Suche so lange gedauert hat. Inwiefern? Welch Rolle spielt Pakistan? Es ist ja so, dass sich die Amerikaner in Pakistan nur sehr vorsichtig bewegen konnten und auch nicht die militärischen Mittel auf dem Boden zur Verfügung hatten, um solch eine Aktion durchzuführen. Es gibt Hinweise darauf, dass die Amerikaner die Aktion gegen Osama Bin Laden allein durchgezogen haben, die Pakistani also nicht in die Operation miteingebunden wurden, aus Sorge, sie könnten das Vorhaben torpedieren. Die Amerikaner haben damit Lehren aus der Vergangenheit gezogen – aus dem Jahre 1998 beispielsweise, als die USA Cruise-Missiles auf Al-Qaida-Lager in Afghanistan feuerten, weil sie dort ein Spitzentreffen zwischen Al Qaida und anderen Gruppen vermuteten. Pakistaner haben damals Osama gewarnt, und er entkam. Wir müssen auch die Entwicklung Pakistans betrachten, wie sie mit dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan 1979 begann. Es hat damals eine starke Islamisierung auch der Armee und damit des Geheimdienstes, stattgefunden, besonders zu Zeiten Mohammed Zia-ul-Haqs, der Pakistan zwischen 1977 und 1988 regierte. Unter seiner Ägide sind Islamisten in die Armee integriert worden; für alle Soldaten wurde obligatorischer Islamunterricht, eine Art Politik-Unterricht, eingeführt. Das blieb nicht ohne Folgen: Seither gibt es viele in der Armee und in den Geheimdiensten, die mit der Ideologie Al Qaidas und den Taliban sympathisieren. Was halten sie von der Diskussion, ob es nicht besser gewesen wäre, Bin Laden lebendig zu fangen und ihn einer Gerichtsbarkeit zuzuführen. Natürlich wäre das besser gewesen. Aber so eine Operation ist wohl nur so lange planbar, bis sie tatsächlich beginnt; danach ist nichts mehr kontrollierbar. Auch wenn Bin Laden selbst unbewaffnet gewesen sein sollte, werden sicherlich Leute um ihn herum gewesen sein, die geschossen haben. Nichtsdestotrotz halte ich es zum Beispiel für wichtig herauszufinden, wer eigentlich geschossen hat und aus welcher Entfernung und wieviel Gegenwehr es tatsächlich gegeben hat, welche exakten Befehle es für die Special-Forces-Leute gegeben hat. Jede Nichtinformation bietet ansonsten neuen Stoff für Verschwörungstheorien aller Art. Es gibt bereits Leute, die sagen, die Amerikaner wollten gar nicht, dass Osama auspackt, oder sie hätten nicht gewusst, wie man ihn juristisch korrekt vor welches Gericht stellt. Auch der Status Guantanamos, wohin ein gefangener Bin Laden hätte gebracht werden sollen, ist umstritten. Es lässt sich also nicht verlässlich sagen, ob die Erschiessung Osamas für die Amerikaner nur die zweitbeste Option gewesen ist – nach einer Gefangennahme – oder ob es Obamas offizielle Anweisung war, Osama zu eliminieren, um eventuelle andere Probleme gleich mitzuerledigen. Das wird wohl alles Spekulation bleiben. Herr Ruttig, vielen Dank für das Gespräch Das Interview führte Timo Stein

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