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Philosophie und menschliche Existenz - Warum sind wir so unglücklich?

28.11.2005 - Cicero Online Exklusiv: In unserer heutigen Gesellschaft muss niemand mehr um seine Existenz kämpfen. Doch warum sind wir dann so unglücklich?

„Im Rückblick“, so schrieb der Philosoph Karl Jaspers 1931 in seinem Buch Die geistige Situation der Zeit, „erscheinen jetzt die Jahre bis 1830 als die halkyonischen Tage wie eine verklärte Zeit.“ Was Jaspers vor fast drei Generationen über den Vormärz sagte, werden spätere Historiker von der Gegenwart behaupten können: Nie zuvor gab es eine Periode in der abendländischen Geschichte, die an individuellem Lebensglück, politischer Ruhe und wirtschaftlichem Wohlstand unserer Zeit vergleichbar wäre. Würden diese Momente den wesentlichen Gehalt von Glück ausmachen, so ginge man nicht fehl zu behaupten, heute habe sich die Weltgeschichte vollendet. Dem erreichbaren Maß an Befriedigung persönlicher Bedürfnisse nach zu urteilen, herrscht für den westlichen Menschen seit den neunziger Jahren tatsächlich der ‚ewige Sabbat’: Der Wohlstand, die Signatur unserer Epoche, ist ohnegleichen in der Geschichte.

Diese Einschätzung gilt indes nur unter Zugrundelegung der ökonomischen Definition von Glück, die die kanonische Formel vom pursuit of personal happiness ausdrückt. Wer den Gehalt von Existenz nach einem Element bestimmt, das jenseits von Bedürfnis und Befriedigung liegt, erkennt in dem heutigen Zustand weniger den ‚ewigen Sabbat’ als die Periode einer grenzenlosen Langeweile. Langueur, Mattigkeit – das Signalwort der Moderne gilt auch für uns: Es bezeichnet unser Unvermögen zu echter persönlicher Leistung, die allgemeine Verflachung des Daseins, das Bewusstsein schließlich, ohne existenziellen Horizont zu leben.

Wir leben heute ohne eigentliche Probleme. Das ist die Wahrheit über eine Gesellschaft, die in der Auseinandersetzung um Hartz IV oder die europäischen Verfassung Existenzfragen zu erblicken meint und darin doch nur mit ihrer Unfähigkeit konfrontiert wird, sich selbst an einem veritablen, nicht bloß tagespolitisch relevanten Widerstand zu erproben und zu formen. Wie glücklich, sage ich mir immer wieder im Rückblick auf die Geschichte, wie glücklich müssen Generationen gewesen sein, die sich noch in der Überwindung eines echten Widerstandes in der politischen Öffentlichkeit existenziell entfalten und damit die Wirklichkeit ihrer eigenen Individualität gegenüber der Geschichte beweisen durften.

Denn die Widerstände im Privaten verleihen wegen ihrer Natürlichkeit und Selbstbezogenheit keine eigentliche, historische Wirklichkeit. Es ist das Spezifikum der modernen Gesellschaft, dass in ihr nicht das Öffentliche zum Gegenstand auch des Privatdaseins, sondern umgekehrt das Private zum Gegenstand auch des politischen Daseins geworden ist; statt einer Gemeinschaft mündiger Gemein-Wesen sehe ich mich heute einer Gesellschaft apolitischer, nur mehr in den Verfolg ihrer privaten Interessen verstrickter Einzel-Wesen gegenüber, die in jedem Bereich allein nach dem Tauschprinzip handeln, um das sich nach Jean-Jacques Rousseau die moderne Gesellschaft dreht.

Diese innere Verelendung aber entspringt dem, was ich das Verschwinden des existenziellen Horizontes nenne: Anders als früher bedrücken uns keine Existenz gefährdenden Probleme mehr. Noch im neunzehnten Jahrhundert mussten große Teile der Bevölkerung, indem sie einem Broterwerb nachgingen, noch wirklich um ihre Existenz kämpfen; noch im zwanzigsten stand die westliche Jugend gegen die Repressionen einer überkommenen Sexualmoral auf; in beiden Fällen ging es um die Bewältigung eines existenziellen Widerstandes. Heute aber fehlen solche Widerstände, und weil die Widerstände im ‚Hier und Jetzt’ fehlen, so fehlt auch das jeweilige ‚Jenseits’, der Horizont, nach dem der Mensch sich in seinem Widerstandleisten je orientiert. Hineingeboren in eine Zeit ohne Widerstände, lebt der heutige Mensch, seiner Natur nach das mit Transzendenz begabte Wesen, transzendenzlos; wenn je irgendeine Epoche von sich behaupten durfte, sie habe den Horizont, nämlich den im diesseitigen Existenzkampf begründeten Jenseitshorizont weggewischt, dann unsere.

Was dieser Horizontverlust für das praktische Leben bedeutet, erfährt zu allererst die Jugend. Sie sieht sich heute – und daher ist sie trotz allem Wohlstand unglücklich – ohne Aufgabe. Wiggo Ritter, der scheiternde Held des Romans Der Eisvogel von Uwe Tellkamp, ist in vielem eine Symbolfigur für die Situation meiner Generation: Sein Wissen um die Trivialität beliebter Ablenkungsmodi, wie sie heute in frühester Schulzeit bereits eisern einexerziert werden – Drogenerfahrungen, die ebenso wenig von Übertretung mehr an sich haben wie sexuelle Ausschweifungen, die in ihrer Regelmäßigkeit alle Kriterien einfältigster Bürgerlichkeit erfüllen –, degradiert ihn zum Außenseiter der Gesellschaft, in der selbst auf höchster Ebene nur mehr das Private zählt, nicht aber eigentliche Leistung, die ich dann eigentlich nenne, wenn sie einem existenziellen Ziel gilt und im Licht einer aufmerksamen und urteilsbefugten Öffentlichkeit geschieht. Der Westen heute kennt keine lohnenden Ziele mehr, und eine politische Öffentlichkeit – der einzige Garant von Sinnhaftigkeit in einer Zeit, die sich Gott entfremdet hat – ist ihm längst verloren gegangen. Sich wieder einer großen Aufgabe stellen zu können scheint mir das eigentliche Anliegen meiner Generation, die, weil sie ihr Leben noch vor sich hat, keinen dringenderen Wunsch kennt, als sich eine echte eigene Existenz zu gewinnen und damit der Grenzlinie wieder eindeutige Konturen zu verleihen, die den Menschen, das animal rationale, vom Tier scheidet.

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