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Slow TV - Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Stilkolumne: Entschleunigung – die Heilsbotschaft der 24-Stunden-Gesellschaft erreicht das Fernsehen. In Norwegen geraten Liveübertragungen von Bahn- und Schiffsfahrten zum Quotenhit. Ein erholsamer Gegentrend zum grellen Dauerbombardement der Medien

Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Angeblich wird die Welt ja immer schneller und hektischer. Ich persönlich halte das allerdings für ein Gerücht. Wenn der Feierabendverkehr sich mal wieder zäh dahin zieht, der Anschlusszug die üblichen 30, 50 oder 80 Minuten Verspätung hat oder man in einem behördlichen Warteraum stundenlang dahindämmert, überkommt einem mitunter der Eindruck, dass die Reise eher in die andere Richtung geht: zur umfassenden Erstarrung.

Futuristen werden jetzt natürlich widersprechen. Schließlich jagen E-Mails in Sekunden um die Welt, und mit ein paar Klicks verfügen wir über das Wissen eines gesamten Gelehrtenlebens. Stimmt ja auch. Allerdings sind Medien und Welt zwei paar Schuhe, und nur weil die mediale Informationsverbreitung rascher erfolgt, wird die Welt noch lange nicht schneller: Züge verspäten sich nach wie vor, wir erfahren nur eher davon. Toller Fortschritt.

Doch Menschen sind soziale Wesen, und soziale Wesen kommunizieren. Medientechnische Veränderungen werden daher intensiver wahrgenommen als andere Neuerungen – und sie wirken sich stärker auf unsere Gemütslage aus.

Das ist vielleicht auch der Grund dafür, dass viele Menschen die Fähigkeit zur Muße verlieren. Selbst der Kaffee muss jetzt im Gehen getrunken werden, das Essen wird nebenbei erledigt, das Smartphone immer griffbereit. Man hat den Eindruck, dass wir uns in eine ruhelose Multitasking-Gesellschaft verwandeln.

Doch wie postmoderne Gesellschaften so sind: Wo der eine Trend regiert, ist der Gegentrend nicht fern. Und so formierten sich in den letzten Jahren Bewegungen, die sich der gefühlten Beschleunigung und dem lieblosen Alles-gleichzeitig-Machen entgegenstellen. Entschleunigung heißt das Zauberwort.

Von Slow Food zu Slow TV
 

Begonnen hat alles 1986. Da gründete der italienische Publizist Carlo Petrini die Organisation Arcigola. Die kämpfte nicht nur gegen die Eröffnung eines Fast-Food-Restaurants direkt neben der Spanischen Treppe, sondern engagierte sich auch für genussvolles Essen und regionale, nachhaltig erzeugte Lebensmittel. 1989 wurde daraus Slow Food.

Doch Slow Food war nur der Anfang. Bald formierte sich eine ganze Slow-Bewegung: Slow Art, Slow Fashion, Slow Parenting, Slow Travel. Parallel dazu überschwemmten Entschleunigungs-Ratgeber den Buchmarkt, die das einfache Leben proklamierten, das Glück des Nichtstuns rühmten, zur Muße aufriefen und Schnecken, Bären oder Schildkröten als vorbildliche Zeitmanager priesen.

Der jüngste Trend dieser globalen Downshifting-Kultur ist das Slow TV. Aber was bitte ist das?

Seinen Anfang nahm der Hype um das Slow TV im Jahr 2009. Da feierte die Bahnstrecke Oslo-Bergen ihren 100. Geburtstag. Anlässlich dieses Jubiläums hatte der Produzent Rune Møklebust die Idee, die gut sieben Stunden dauernde Fahrt live zu übertragen, vollständig, ohne Pause. Gefilmt wurde die Reise von vier Kameras. Die zeigten Innen- und Außenansichten, ergänzt mit Interviews der Zugbesatzung, von Passagieren und ehemaligen Arbeitern. Die Ausstrahlung am 27. November desselben Jahres beim norwegischen Staatssender NRK 2 war ein durchschlagender Erfolg.

Zwei Jahre später, am 16. Juni 2011, legte Møklebust nach. Diesmal zeigte er, wiederum live, die Fahrt des Postschiffes MS Nordmorge von Bergen nach Kirkenes – insgesamt 134 Stunden, festgehalten durch 11 Kameras.

Die Resonanz überstieg alle Erwartungen. Insgesamt verfolgten 2,5 Millionen Menschen die beschauliche Fahrt – etwa die Hälfte der Bevölkerung Norwegens. Den prickelnden Moment, als das Schiff in den Trollfjord einfuhr, verfolgten 692.000 Zuschauer.

Die beinahe logische Konsequenz: Im Februar 2013 veranstaltete NRK 2 die „Nasjonal vedkveld“, also die nationale Feuerholznacht – man konnte über acht Stunden das Abbrennen eines Feuers in Echtzeit verfolgen – und im letzten November die nationale Stricknacht.

Kein Wunder, dass das Phänomen schnell auch außerhalb Norwegens Resonanz fand: Der Guardian etwa sah in ihm das perfekte Gegenmittel gegen das laute, schnelle und überdrehte Fernsehprogramm unserer Zeit. Und der Telegraph berichtete, dass British Airways die siebenstündige Bahnfahrt während ihrer Flüge zeigen will, zur Entspannung, als „journey-within-a-journey“.

Nun werden einige Leser einwenden, dass die Sache so neu nicht ist. Immerhin strahlte der ehemalige SFB auf seinem Programm B1 schon Mitte der 1990er Jahre S-Bahnfahrten durch Berlin aus, im Nachtprogramm der ARD laufen „Die schönsten Bahnstrecken“, die „Space Night“ des Bayerischen Rundfunks hat Kultcharakter. Zudem wissen natürlich alle Kunstinteressierten, dass Andy Warhol 1963 in seinem Film „Sleep“ den Dichter und Performancekünstler John Giorno fünf Stunden und 11 Minuten beim Schlafen zeigte.

Allerdings: Die diversen Echtzeitübertragungen von Bahnfahrten sind ebenso wie die „Space Night“ Füllprogramme, die nachts ausgestrahlt werden. Und vor allem: Sie sind nicht live.

Bahnfahrt in Echtzeit
 

Anders Slow TV. Hier kann der Zuschauer ein aktuelles Geschehen verfolgen, und das zur besten Sendezeit. Das stiftet Gemeinschaft, wie allein die Reaktionen in den sozialen Netzwerken zeigt: Der 134-stündigen Fahrt des Postschiffes folgten 63.000 Fans auf Facebook, der Hashtag #hurtigruten (der norwegische Ausdruck für die Postschifflinie) erreichte Spitzenwerte, und entlang der Fahrroute standen die Menschen und hießen das Schiff willkommen.

Das bedeutet: Die Langsamkeit ist nur die eine Seite von Slow TV. Mindestens ebenso wichtig ist das Gemeinschaftserlebnis, auch jenseits des Fernsehers. Insofern ist Slow TV nur eine Variante des gängigen Eventfernsehens – man denke nur an die Fußballweltmeisterschaft vor wenigen Wochen.

Doch das ist natürlich nicht alles. Zwar ist ein Fußballspiel genau genommen auch nicht spannender als eine mehrstündige Bahnfahrt – und bei weitem nicht so lehrreich –, aber Fußball ist ein Volkssport, der über die Identifikation mit der Mannschaft erhebliche Emotionen freisetzt.

Der Witz von Slow TV liegt jedoch gerade darin, dass es Menschen eine Auszeit gestattet von den hoch emotionalisierenden Themen unserer Zeit. Slow TV bietet uns Abstand von den Reizen, mit denen uns die Medien schreiend, grell und bunt dauerbombardieren.

Es eröffnet uns die Möglichkeit, zu uns zurückzufinden, jenseits der synthetisch erzeugten Gefühle der Medienwelt. Dass wir dafür wiederum Medien brauchen: nun gut. Das liegt auch daran, dass wir diese Entspannung gerne mit unseren Mitmenschen teilen. Mein Vorschlag: Lasst uns dem Gras beim Wachsen zuschauen, auf allen Kanälen, ein ganzes Jahr lang, ohne Werbepause. Welch Erholung!

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