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Stiefeletten - Chelsea oder Jodhpur?

Knöchelhohe Stiefeletten sind momentan wieder sehr im Trend. Doch die Wahl mag reiflich überlegt sein. Was es genau zu beachten gilt, erklärt unser Stilexperte Alexander Grau

Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Die Beatles trugen sie und die Rolling Stones, Jim Morrison und David Bowie und wer sonst noch alles cool war und angesagt im London der 1960er Jahre: Chelsea Boots. Auch ihren heutigen Namen verdanken die Stiefel den Swinging Sixties. Denn rund um die King’s Road im Stadtteil Chelsea versammelten sich ab Ende der 50er Jahre junge Künstler und Schriftsteller, Filmleute und Schauspieler, Musiker und Modemacher. Der Stil dieser Bohemiens machte London für einige Jahre zum Epizentrum der entstehenden Popkultur. Und die Chelsea Boots passten einfach hervorragend zu den schmal geschnittenen Anzügen, den Jeans und den Leserhosen, die damals jeder trug, der mit neuen Schnitten experimentierte, neuen Mustern, neuen Sounds, Lebensformen und Drogen.

Allerdings: Was die Beatles zu ihren berühmten, von Douglas Millings entworfenen Anzügen trugen, waren streng genommen gar keine Chelsea Boots, sondern einfach spitz geschnittene Stiefeletten mit Reisverschluss und einem hohen Absatz, dem so genannten Cuban Heel. Entworfen hatte die Treter Anello & Davide, ein Produzent aus Covent Garden, der vor allem Ballettkompanien und Theater ausstattete. Doch das nur nebenbei.

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Echte Chelsea Boots haben flache Absätze, einen eher traditionellen Schnitt und vor allem einen elastischen Einsatz in der Höhe des Knöchels, der die beiden Schuhhälften zusammenhält und das bequeme An- und Ausziehen überhaupt erst ermöglicht. Und wirklich neu waren diese Schuhe in den 1960er Jahren auch nicht mehr.

Erfunden wurden die Stiefeletten mit dem Gummieinsatz von dem Schuhmacher Joseph Sparkes Hall. Der experimentierte in den 1830er Jahren mit Möglichkeiten, Stiefel zu konstruieren, die aufgrund ihrer Elastizität ein bequemes An- und Ausziehen möglich machen. 1837 stellte Sparkes Hall das Ergebnis seiner Bemühungen der frisch gekrönten Königin Victoria vor. Die  junge Königin war angetan, auch wenn Sparkes Halls Prototyp alles andere als perfekt war. Das lag auch daran, dass der Schuhmacher noch keine befriedigende Lösung für das Problem eines elastischen Materials gefunden hatte – seine Idee bestand in feinen Metallfäden, die mit Baumwolle ummantelt waren.

Rettung kam von unerwarteter Seite: 1844 entwickelten der Amerikaner Charles Goodyear und der Engländer Thomas Hancock mehr oder minder parallel das Verfahren zur Vulkanisierung von Kautschuk – Gummi war geboren. Sparkes Hall sah sofort die Vorteile des neuen Materials für seine Schuhidee und machte sich ans Werk. In seinem Patentantrag von 1851 schrieb er stolz: „Sie (Queen Victoria) geht täglich in ihnen, und das gilt uns als der sichere Beweis für den Wert, den sie dieser Erfindung beimisst.“

 

Der Chelsea Boot war also von vornherein ein Unisex-Produkt – und ist es nach wie vor. Das gilt auch für seinen schärfsten Konkurrenten: den Jodhpur. Der unterscheidet sich von dem Chelsea dadurch, dass der markante elastische Gummieinsatz wegfällt und die beiden Schuhhälften durch einen dünnen Lederriemen zusammengehalten werden.

Angeblich wurde der Jodhpur zum Reiten erfunden. Tatsache ist, dass bis Ende des 19. Jahrhunderts hohe Reitstiefel getragen wurden. Das änderte sich mit dem Aufkommen der Jodhpur Boots und der Jodhpur-Hose – vor allem beim Polospielen und bei der in Indien stationierten britischen Kavallerie. Ob die Stiefelette mit dem Riemen tatsächlich – so wie die namensgleiche Reithose – auf ein indisches Vorbild zurückgeht, oder ob Engländer ihre Stiefeletten ummodelten, um bequeme Reitschuhe zu haben, die zu den neuen Reithosen passten – schwer zu sagen. Auf jeden Fall werden Jodhpur Boots auch heutzutage noch in der indischen Stadt Jodhpur hergestellt.

Kaum jedoch waren Chelseas und Jodhpurs etabliert, wendete sich die modische Entwicklung gegen sie – sowohl bei Damen als auch bei Herren galten Stiefeletten nach dem Ersten Weltkrieg als komplett unmodern. Auch die breite Masse begann Halbschuh zu tragen. Das änderte sich erst in den 50er Jahren wieder.

Letztlich ist es vor allem eine Frage der richtigen Kombination.

Bleibt die Frage: Chelsea oder Jodhpur? Meine persönliche Meinung: Chelsea. Begründung: keine wirkliche, eher ein sehr subjektives Empfinden. Chelsea Boots, je nach Bau- und Machart, können sowohl eleganter als auch sportlicher sein. Sie eignen sich sowohl für eher formale Kleidung als auch für den klassischen Casual Look.

Jodhpurs hingegen sehen für den modernen Zeitgenossen immer etwas aus wie elegantere Motorradstiefel. Ihren Auftritt martialisch zu nennen wäre sicher übertrieben, dennoch haftet ihnen etwas Abweisendes an. Aber vielleicht spiegelt sich in dieser Einschätzung auch nur meine ganz persönlich Abneigung gegen Schuh mit Schnallen – auch für Monks bin ich nur schwer zu begeistern.

Auf jeden Fall sollte gelten: Wenn Jodhpur, dann zumindest nicht schwarz. In klassischem Kastanienbraun hingegen sehen Jodhpurs fantastisch aus – keine Frage. Damit löst sich auch das Problem der Kombination. Jodhpurs verlangen einfach nach einer sportlichen Rahmung, nach Chinos oder Jeans.

Klassische Chelseas hingegen sind schwarz. Allerdings gibt es sie auch in allen Brauntönen, in Beige und Blau und was sonst noch so möglich und unmöglich ist. Chelsea Boots machen sich zudem auch gut in Wildleder. Das ist zwar nicht stilecht, aber was will man schon sagen, wenn diese Variante sogar von einem Traditionshaus wie Tricker’s angeboten wird? Dort, wie bei anderen Herstellern, hat seit Jahren auch die lustige Marotte Einzug gehalten, den Gummieinsatz möglichst kontrastreich zu färben: in Lila, Knallgelb, Rot oder Giftgrün.

Über die Frage, ob man Chelsea Boots – dann allerdings wirklich in schwarz – auch zum Anzug tragen kann, scheiden sich die Geister. Im Grunde spricht nichts dagegen, allerdings ist der Chelsea ebenso wie der Jodhpur ein sportlicher Schuh, ursprünglich eher fürs Land und den Pferdestall gedacht als für das Büro.

Besonders deutlich wird das mit Blick auf die Damenmode. Zu Hosenanzug und Kostüm sieht weder der eine noch der andere Stiefel wirklich überzeugend aus. Umso besser machen sie sich zu Jeans aber auch, bei entsprechender Figur, zur engen, kürzeren Röcken oder Hosen – das wusste auch schon Mary Quant. Insbesondere der Jodhpur kann den weiblichen Casual Look auf elegante Weise aufwerten. Vielleicht ist es ohnehin so, dass für unsere heutigen Wahrnehmungsgewohnheiten der Jodhpur besser zu einem feminin-sportlichen Erscheinungsbild passt als zu entsprechender Herrenmode.

Doch wie dem auch sei: Beide, Chelsea und Jodhpur, feiern nicht ohne Grund seit einigen Jahren ihr zweites Comeback, nachdem sie in den 70er Jahren, verunstaltet mit Plateausohlen und Plastik, in der Modeversenkung verschwunden waren. Gerade für den beginnenden Herbst sind sie eine wunderbare Alternative zu gängigen Halbschuhen – auch wenn man gerade nicht vom Polospielen kommt.

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