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Küchenkabinett - Kochend heißes Essen war gestern

Weniger Feuer, mehr Geschmack? In Gourmetrestaurants verbrennt man sich die Zunge nur noch an Chilischoten. Denn lauwarmes Essen gilt nicht mehr als Fauxpas

Autoreninfo

Julius Grützke ist Autor und Gastronomiekritiker. Er lebt in Berlin

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Dieser Text erschien zunächst in der Printausgabe des Cicero (April). Wenn Sie das monatlich erscheinende Magazin für politische Kultur kennenlernen wollen, können Sie hier ein Probeabo bestellen.

 

 

Nicht nur Politiker verbrennen sich die Zunge – zumindest jedem Kind ist es schon einmal passiert, als es sich aus Ungeduld und Gier über eine verlockende Speise hergemacht hat, die gerade aus der Küche kam. Spätestens auf diese Weise haben wir alle gelernt, dass die Küche ein Gefahrenherd ist, von dem eine Faszination ausgeht. Die Verbindung von Feuer und Leidenschaft ist nicht nur ein poetischer Topos, sondern eine selbstverständliche Voraussetzung guten Speisens. Seit jeher assoziiert man die dampfenden Töpfe über dem domestizierten Feuer und die Gerüche, die von ihnen ausgehen, mit Geborgenheit und Genuss. Nicht zuletzt deshalb bildet die Küche in vielen Familien das Zentrum der Wohnung. Ein wenig von diesem heimatlichen Gefühl wollen auch manche Gourmetrestaurants wecken, wenn sie Küchenpartys veranstalten, bei denen die Gäste die Speisen am Ort ihrer Entstehung zu sich nehmen. Wer allerdings erwartet, dass es dort immer noch heiß hergeht, hat die Zeichen der jüngeren Zeit nicht erkannt. Kochend heiß wird in der Hochgastronomie kaum mehr etwas serviert. Was auch immer als Hauptgericht auf der Karte steht – eine Variation vom Lamm, eine Entenbrust oder eine Seezunge –, am Tisch erscheint es lauwarm. Dafür gibt es zunächst technische Gründe: Kleine Portionen kühlen naturgemäß rasch aus. Früher behalf man sich mit gewärmten Tellern und Cloches, metallenen Hauben, unter denen die Speisen an den Tisch gebracht und von einem Trupp Kellnern gleichzeitig fortgenommen wurden. Dieser Theatereffekt ist nach Personalkürzungen nicht mehr möglich. Weil bei den aus vielen Teilen bestehenden kulinarischen Kreationen einzelne Komponenten wie Estragoneis, Espuma von Parmesan oder Kalbskopfsülze keine Hitze vertragen, verbietet sich auch ein Vorwärmen des Porzellans. So ist die vormals oft gehörte Warnung des Kellners vor dem heißen Teller inzwischen eine Seltenheit.

Auch bei Gerichten, die eigentlich nach Temperatur verlangen, ist die Hitze verloren gegangen. Die Brühe, die ja bereits im Namen quasi Blasen schlägt, kommt immer öfter lediglich zimmerwarm an den Platz, weil so der wertvolle Geschmack der Essenz besser gewürdigt werden kann.

Selbst ein Instrument, das die Temperatur bewahren sollte, ist zum Werkzeug des Lauen geworden. Am sogenannten Pass – dem Ort der Übergabe der Teller von der Küche an das Servierpersonal – sind Wärmelampen installiert, um längere Aufenthaltszeiten zu überbrücken. Das nutzen die Köche, um ihre immer aufwendigeren Dekorationen anzubringen, und kalkulieren die Leistung der Infrarotstrahlung in die Garzeit ein. Damit schwindet die Bedeutung des Herdes als zentraler Ort der Zubereitung. Auch innerhalb der Küche verliert er immer mehr Aufgaben an Spezialgeräte wie Mixer mit Thermostat oder Wellenbäder, die vakuumiertes Fleisch im Sous-vide-Verfahren aufnehmen – all das natürlich bei Temperaturen weit unter dem Siedepunkt. Das Feuer spielt nurmehr auf Grillfesten eine Rolle.

Man kann es als Abschied vom industriellen Zeitalter mit seinen Hochöfen und Stahlschmelzen deuten: Die Küche hört auf, eine Schmiede zu sein, und ähnelt heute eher den staubfreien Reinräumen der Chipfertigung. Viele mögen das Verschwinden des Handwerklichen und Bodenständigen bedauern und dem schweren Kochgeschirr hinterhertrauern, doch der sanftere Umgang mit den Lebensmitteln öffnet ein vollkommen neues Ausdrucksspektrum, ganz abgesehen davon, dass die Möglichkeiten des Misslingens im Niedertemperaturverfahren verringert werden. Natürlich gehen dabei Schlüsselreize verloren. Röstaromen zum Beispiel sind eigentlich ohne Feuer nicht zu haben. Aber dafür gibt es Techniken – der Geschmack von Rauch und Asche, der momentan en vogue ist, wird häufig nachträglich beigefügt. Und auch die heimelige Hitze, die so viele Kindheitserinnerungen weckt, lässt sich chemisch substituieren – mit der Schärfe von Chili kann man sich auch weiterhin den Mund verbrennen. 

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