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Freizeitkultur in Deutschland - Urlaub bedeutet Arbeit

Der Sommerurlaub ist für den Bundesbürger ein fester Bestandteil der Jahresrituale. Alltagstrott wird dann durch Urlaubstrott ersetzt. Die angeblich schönsten Wochen des Jahres werden unter Planungsdiktate, Ökonomisierungszwänge und Optimierungsvorgaben gesetzt

Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Es ist wieder so weit. An diesem Wochenende bricht halb Deutschland auf in den seit Wochen herbeigesehnten Urlaub. Und da sich Bremer, Niedersachsen, Hessen, Baden-Württemberger und Bayern gleichzeitig ins Getümmel stürzen,  wird spätestens auf den Autobahnen in Richtung Garmisch oder Salzburg bald nichts mehr gehen. Und da hat man die Alpenpässe noch gar nicht erreicht. Wie schön.

Urlaub – Sinn des Lebens?
 

Der Urlaub ist eine der absonderlichsten Kulturerscheinungen der Moderne. Das liegt schon daran, dass bis vor wenigen Jahrzehnten die allermeisten Menschen gar nicht wussten, was Urlaub ist, heutzutage aber so getan wird, als sei er der alleinige Sinn des Lebens. So ändern sich die Zeiten.

Und so wird die Tourismusbranche wahrscheinlich auch dieses Jahr wieder Rekordumsätze verbuchen und Rekordreservierungen. Der dreiwöchige Sommerurlaub ist für den Bundesbürger ein fester Bestandteil der Jahresrituale, so wie Ostern oder Weihnachten.

Zu den Absurditäten der Institution Urlaub gehört, dass er verplante freie Zeit ist. Der Urlaub ist freie Zeit, die geopfert wird, um das Besondere zu erleben. Das macht ihn emotional zu einem Reizpunkt. Anstatt die arbeitsfreie Zeit zu genießen und in den Tag hineinzutrödeln, wird sie durchstrukturiert, minutiös geplant und generalstabsplanmäßig umgesetzt. Das erzeugt naturgemäß einen gewissen Erwartungsdruck. Und wehe, wenn etwas schief geht.

Urlaub heißt Stress
 

Daher ist Urlaub mit Stress verbunden. Schon die Anreise nervt mitunter mehr als ein durchschnittlicher Arbeitstag. Hat man schließlich den Urlaubsort erreicht, droht weiteres Ungemach: Während man selbst halbwegs planmäßig auf Ibiza gelandet ist, vergnügt sich das Gepäck auf Fuerteventura. Von einer Reservierung auf den eigenen Namen ist im Hotel nichts bekannt. Das Zimmer, das man dann gnädigerweise zugewiesen bekommt, liegt über der hoteleigenen Diskothek. Und wenn man auf den Balkon heraustritt, empfängt einen der Höllenlärm von der Großbaustelle nebenan.

Und das ist nur der Anfang: Auf dem Weg zum Meer nerven Händler, die Taschen von Yves Saint Laurent für 12 Euro anbieten, der Strand ist hoffnungslos überfüllt, und das lauschige Fischrestaurant am Hafen, dass einem so ans Herz gelegt wurde, erweist sich als Touristenfalle.

Aus Alltagstrott wird Urlaubstrott
 

Egal, könnte man jetzt einwenden, Hauptsache Sommer, Palmen, Sonnenschein und mal raus aus dem Alltagstrott. Dagegen ist natürlich auch gar nichts einzuwenden, weshalb aber um alles in der Welt der Alltagstrott nun ausgerechnet durch den Urlaubstrott ersetzt werden muss, stellt ein anthropologisches Rätsel dar.

Wahrscheinlich ist das Mysterium Urlaub nicht ohne seine Antipode zu verstehen: die Arbeit. Zu dieser hat der Mensch verständlicherweise ein zwiespältiges Verhältnis. Einerseits braucht er sie zum Lebensunterhalt und um sich die Annehmlichkeiten einer postindustriellen Gesellschaft zu leisten. Zudem gibt sie ihm Halt, sie strukturiert den Tagesablauf und schafft soziale Kontakte. Kein Wunder also, dass nach einer Forsa-Umfrage vom letzten Jahr nur ein Viertel der Befragten im Falle eines Lottogewinns von 10 Millionen ihren Job kündigen würden.

Bleibt das Andererseits: Denn natürlich nervt Arbeit auch, belastet und macht unfrei. Aus diesem Grund hatte sie über Jahrtausende keinen besonders guten Ruf. Für die meisten antiken Philosophen zum Beispiel war klar, dass Arbeit eines kultivierten Menschen unwürdig ist. Sie raubt ihm Zeit, sich mit den wirklich wichtigen Dingen zu beschäftigen, mit Kunst, Kultur, Politik und vor allem: mit sich selbst. Erwerbsarbeit steht daher, so wusste Aristoteles, wahrer Tugend im Wege. Über den Ausdruck Work-Life-Balance hätten die antiken Meisterdenker schallend gelacht. Nicht zu Unrecht.

Das verkrachte Verhältnis zur Faulenzerei
 

Eine radikale Umwertung der Arbeit brachte das Christentum. „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen“, heißt es bei Paulus etwas politisch inkorrekt. Jesus selbst hatte das mit Blick auf die Vögel des Himmels zwar noch etwas anders gesehen, doch der war schließlich auch Wanderprediger und auf Almosen angewiesen.

Arbeit bedeutet Erlösung. Sie ist – neben dem Gebet – der Weg zu Gott. Diese Überzeugung hat Europa tief geprägt. Müßiggang hingegen ist Sünde und aller Laster Anfang. Das war den mittelalterlichen Mönchen klar, den Kapitalisten des 19. Jahrhunderts und den Oktoberrevolutionären.

Dieses reichlich verkrachte Verhältnis zur Faulenzerei spiegelt sich in unserem Urlaubsverhalten. Der Urlaub ist nichts anderes als die bizarre Übertragung der Verhaltensmuster der Arbeitswelt auf unsere freie Zeit. Die angeblich schönsten Wochen des Jahres werden unter Planungsdiktate, Ökonomisierungszwänge und Optimierungsvorgaben gesetzt.

Hinzu kommt, dass Urlaubsreisen mit Sozialprestige verbunden sind und zur Leistungsschau werden: Wer reist weiter, länger, exotischer? Kann man noch mit einem Cluburlaub auf den Kanarischen Inseln punkten, wenn die Kollegen Trekkingurlaub in Thailand machen? Und ist der klassische Toskanaaufenthalt nicht ein bisschen sehr spießig, wenn die besten Freunde nach Dubai fahren?

Freie Zeit ohne Freiheit
 

Es ist erstaunlich: Trotz allem Gerede von der Freizeitgesellschaft haben wir es bisher versäumt, eine echte Freizeitkultur zu entwickeln. Denn Freizeit ist freie Zeit. Und freie Zeit ist das Gegenteil von verplanter und durchstrukturierter Zeit. Freie Zeit bedeutet, sich treiben zu lassen und nicht zu wissen, was man in zwei Stunden macht – und schon gar nicht in zwei Tagen.

Erschöpfung und Burnout-Syndrom entstehen dann, wenn nicht klar zwischen Arbeit und Freizeit unterschieden wird. Dazu gehören die Emails nach Feierabend und die Verfügbarkeit über das Mobiltelefon. Dazu gehört vor allem aber auch, dass man der freien Zeit, die man hat, das Freie nimmt.

Urlaub ist keine andere Form der Arbeit. Urlaub sollte eine Zeit der Freiheit sein, die nicht bestimmt ist durch Verhaltensmuster der Arbeitswelt. Denn Freiheit ist die Abwesenheit von Zwang, auch von selbst auferlegtem Zwang. Einfach mal zwei Wochen nichts planen und sich nichts vornehmen, einfach mal herumtrödeln. Das wäre doch mal was. Lasst uns endlich eine Freizeitgesellschaft werden, die diesen Namen auch verdient. Es täte uns allen ganz gut.

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