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(picture alliance) Die Nominierten für den Preis der Leipziger Buchmesse - darunter auch Wolfgang Herrndorfs "Sand" (oben, zweites von links)

Alles richtig gemacht! - Wolfgang Herrndorf erhält Buchpreis

Traditionell kann sich die Entscheidung der Jury der Kritik der in Leipzig versammelten Kollegen sicher sein. Dieses Mal aber gab es von allen Seiten großes Lob, vor allem für Wolfgangs Herrndorfs Roman "Sand". Ein Blick auf die Preise der Leipziger Buchmesse

Die Messe ist die Messe ist die Messe: Es ist voll, es ist laut, und in den Gängen schwärmen in fabelhaft kostümierten Trupps die Manga-Kids umher, das ist in jedem Jahr so. Nur die Namen der Nominierten für den Preis der Leipziger Buchmesse (und damit natürlich diejenigen der Preisträger) ändern sich. Meistens jedenfalls. Diesmal aber nicht.

In diesem Jahr nämlich hatte es zum zweiten Mal hintereinander der 47-jährige Wolfgang Herrndorf auf die Shortlist für den Belletristik-Buchpreis geschafft: 2011 noch nominiert für seinen Jugendroman „Tschick“ – und nach einem, wie man hörte, äußerst knappen Rennen in der Jury dann schließlich doch leer ausgegangen –, war er jetzt mit seinem Roman „Sand“, einem in Sujet und Machart völlig anders gelagerten Buch, im Rennen.

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„Sand“ spielt in Nordafrika, im September 1972, während in München das palästinensische Terrorkommando „Schwarzer September“ im Olympischen Dorf die israelische Mannschaft überfällt. Auch im literarischen Nordafrika geht es derweil um Morde. Ein Mann ohne Gedächtnis wird festgenommen, etliche andere mysteriöse Figuren treten hinzu, und statt die Angelegenheit wie im traditionellen Thriller einer zügigen Aufklärung zuzuführen, verwirren sich in „Sand“ die Handlungsstränge und Personenkonstellationen nur immer weiter. Ein Spiel mit verschiedenen Genres ist das, eine Geschichte vom Ich-Verlust und von der Vergeblichkeit aller menschlichen Anstrengungen, doch trotz aller detailliert beschriebenen Grausamkeiten auch immer wieder voller Witz, voller überraschender Wendungen sowieso.

Mit diesem grandiosen Erzählstück konnten die anderen Nominierten nicht mithalten: Thomas von Steinaecker nicht, nicht Sherko Fatah, Jens Sparschuh oder Anna Katharina Hahn – „Sand“ sah zwangsläufig alles andere bieder aus. Wenn man zuvor auch den „Imperium“-Roman von Christian Kracht (der sich aber nicht hatte nominieren lassen wollen) oder Felicitas Hoppes virtuosen Autobiografie-Fake „Hoppe“ auf der Shortlist vermisst hatte: Am Ende hat die Jury also doch noch alles richtig gemacht.

Das gilt ebenso für die Entscheidung in der Kategorie „Übersetzung“. Unvermeidlich geradezu, dass hier Christina Viragh für ihre Übertragung von Péter Nádas’ Monumentalroman „Parallelgeschichten“ den Preis bekommen musste – und das trotz stärkster Konkurrenz in dieser Rubrik. 18 Jahre hatte Nádas an seinem Roman geschrieben, fünf Jahre brauchte die Übersetzerin, ihn ins Deutsche zu bringen: aus einer Sprache, in der, wie es von der Jury hieß, nicht einmal im Wort für „Restaurant“ noch das uns geläufige „Restaurant“ zu erkennen ist.

Aber natürlich wurde der Preis nicht für den heroisch bestandenen Kampf mit der schieren Text-Masse verliehen. Christina Viragh hat Nádas’ Jahrhundert-Epos mit einer solchen Feinheit, Genauigkeit und Musikalität ins Deutsche gebracht, dass dem Ergebnis schlichtweg nicht mehr abzulesen ist, dass es sich hier überhaupt um eine Übersetzung handelt.

Am Vorabend dieser Preisverleihung, und zwar im Rahmen der feierlichen Eröffnung der Buchmesse im Leipziger Gewandhaus, war bereits eine andere Auszeichnung verliehen worden: Die Historiker Timothy Snyder ("Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin") und Ian Kershaw ("Das Ende. Kampf bis in den Untergang. NS-Deutschland 1944/45") teilten sich den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung.

Das ist insofern bemerkenswert,  als nun auch der Preis der Leipziger Buchmesse an ein thematisch sehr ähnlich gelagertes Sachbuch vergeben wurde: "Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt", so heißt das Werk des Berliner Historikers Jörg Baberowski. Warum aber schon wieder Stalin? Baberowskis Buch ist in verschiedener Hinsicht bemerkenswert. Diese plastische Darstellung des bolschewistischen Terrors schickt, wie es der Laudator Jens Bisky formulierte,  den Leser auf einen "Lehrgang in Trostlosigkeit". Keine andere Gesamtdarstellung, so Bisky, sei dem Geschehen bislang näher gekommen.

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Baberowski zeigt, wie Stalin sein Regime weniger nach einer politischen Ideologie als vielmehr nach dem Vorbild der Mafia modellierte. Dem Diktator sei es um das Töten um des Töten willens gegangen, weshalb die nackte Gewalt – und somit die grundlegende Frage, warum Menschen zu derart unvorstellbaren Gräueltaten überhaupt in der Lage sind – im Zentrum dieses Buches steht. Indem sich Baberowski auf die Person Stalin und dessen "psychopathische" Mordlust konzentriert, widerspricht er der geläufigen Hypothese,  dass hier ein politisches System, eine Ideologie, für das Abgleiten in den gewalthaften Exzess verantwortlich gemacht werden müsse. Das Heilsversprechen des Bolschewismus sei dem Terror stets äußerlich gewesen und habe bloß zu seiner Begründung gedient:

Damit – und das ist vielleicht das Bemerkenswerteste an diesem Buch – widerspricht sich Baberowski selbst: Erst vor wenigen Jahren hatte er mit "Der rote Terror" eine Geschichte des Stalinismus vorgelegt, die er mit seinem neuen Buch nun grundlegend revidiert. Vielleicht ist der Buchpreis, den der Historiker nun bekommen hat, auch als Anerkennung für intellektuelle Redlichkeit zu verstehen: Dass nämlich ein Wissenschaftler von seiner einmal fixierten Position angesichts neuer Erkenntnisse abrückt, hat Seltenheitswert.

Die Wucht dieses Buches brachte die anderen für den Preis nominierten Titel ins Hintertreffen. Manfred Geiers etwas biedere Geschichte der Aufklärung, Lothar Müllers mediengeschichtliche Hommage an das Papier, Carolin Emckes autobiografisch erzählte Geschichte der sexuellen Orientierung und Wilfried F. Schoellers umfassende Döblin-Biografie gingen an diesem Mittwoch leer aus.

Traditionell kann sich die Entscheidung der Jury der empörtesten Kritik der in Leipzig versammelten Kollegen sicher sein. Diesmal aber gab es, insbesondere für die Prämierung von Wolfgang Herrndorfs Roman, von allen Seiten großes Lob. Ist eine solche Einmütigkeit nicht einfach nur langweilig? Gerade nicht. Als Ausnahme von der Wiederholung des Immergleichen ist sie eine angenehme Entlastung.

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