- Wir müssen der Welt die Stirn bieten
E.L. Doctorow hat das 20. Jahrhundert in einer Villa Kunterbunt an der 5th Avenue konzentriert – eine Hommage auf zwei Aussteiger Roman
Freedom’s just another word for nothing left to loose»? Das muss nicht stimmen, trotz Janis Joplin. Vielleicht heißt Freiheit vielmehr, von allem für alle Zeit genug zu besitzen – so zumindest der amerikanisch-materialistische Autarkie-Gedanke, gegen den Joplin (die ihren «Lord» allerdings auch um einen Mercedes bat) mit ihrer Landstreicherhymne ansang. Wie ruinös es indes sein kann, zum Sklaven der Dingwelt zu werden, das illustrierten in der amerikanischen Gesellschaft die betuchten Collyer-Brüder, welche in ihrer zunehmend von der Außenwelt abgeschotteten Villa an der New Yorker Fifth Avenue über Jahrzehnte Erworbenes und Gefundenes anhäuften, bis sie im Jahr 1947 inmitten ihrer Sammlung umkamen: Langley, der Erfinder, wurde von seiner eigenen Gerümpel-Falle gegen Eindringlinge erschlagen, woraufhin Homer, der erblindete Musiker, verhungerte. Mehr als hundert Tonnen Unrat – allein vierzehn verrottende Klaviere – schafften die Behörden danach aus dem Haus. Die beiden Exzentriker sind bereits mehrfach zu literarischen Ehren gekommen, doch jetzt erst werden sie zu Helden.
Der New Yorker Literatur-Großmeister
Edgar Lawrence Doctorow, soeben achtzig Jahre alt geworden, hat
einen so eleganten wie einfühlsamen Roman nicht über den Tod,
sondern über das Leben der Brüder geschrieben, wobei er sich die
Freiheit nimmt, deutlich von der Historie abzuweichen. Bis in die
siebziger Jahre lässt er sie in ihrer Trutzburg hausen: ein
Wurmloch im zwanzigsten Jahrhundert, Zeug-Haus für den Endkampf um
die geschichtliche Deutungshoheit. Als Erzähler fungiert der
musische Homer. Er richtet seine Apologie an eine imaginäre
Geliebte, wobei sich der Autor den abendländischen Hochkulturscherz
eines Musenanrufs durch den blinden Sänger nicht verkneifen
kann.
Die Wahl der Perspektive aber erweist sich als geschickt. Auch wenn
Homer die Folgen von Langleys Messie-Syndrom, das dieser nach einer
Gasvergiftung im Ersten Weltkrieg zu entwickeln begonnen hat,
durchaus bedenklich scheinen, so vermag er sich doch mit dem Chaos
zu arrangieren, durch das er sich ohne Augenlicht so sicher bewegt
wie durch den Verkehr vor der Haustür. Daher konstatiert der
Erzähler zwar, wie die Zeitungsstapel anwachsen, oder dass Langley
ein komplettes Auto im Haus wieder zusammensetzt, um damit Strom zu
generieren – im Mittelpunkt von Homers Bericht aber stehen
Liebschaften, Besuche und Theorien.
Langley etwa glaubt wie Nietzsche an die ewige Wiederkunft des Gleichen, seine «Ersetzungstheorie». Homer erinnert sich dagegen mit Vorliebe an die ihm näher bekannten Damen, die auf Dauer zu halten ihm aber nicht gelungen ist. Als Einsiedler wider Willen charakterisiert der Autor seine Helden, gastfreundlich bis zur Selbstlosigkeit: Sie öffnen ihr Haus der sie bald ablehnenden Nachbarschaft, indem sie Tanzvergnügen veranstalten, und sie lassen Bedürftige bei sich wohnen: einen schwarzen Jazz-Musiker, Japaner während des Zweiten Weltkriegs, eine Mafia-Bande und schließlich eine bunte Schar von Hippies. Hier herrscht oft gegenseitiges Verständnis – «Die Hoshiyamas kuratierten diese Sammlung» –, selbst die fluchenden Mafiosi zeigen sich letztlich dankbar, und die Hippies halten die Brüder geradezu für Gurus kurz vor dem Nirwana, was dem bereits ältlichen Homer noch einmal sexuelle Wonnen beschert. Beendet werden diese lebensfrohen Phasen meist durch die Staatsgewalt.
Zwei Fackelträger der Freiheit
Was diesen Roman über eine Hommage an zwei Aussteiger erhebt,
ist die brillante, keineswegs aufgesetzt wirkende Verdichtung der
Handlung zur großen amerikanischen Gegengeschichte. Denn natürlich
haben wir mit dieser Villa Kunterbunt das gute Amerika vor uns, in
dem all die Ausgegrenzten Zuflucht finden, in dem eine Behinderung
kein Hindernis ist, in dem Frieden und Recht herrschen, während es
vor der Tür alle Jahre zu einem «abscheulichen Krieg» kommt: «War
dies am Ende doch ein ganz gewöhnliches Land?» Die
Autoritätsverachtung Langleys grenzt an Delinquenz, ist aber
zugleich reinster Ausdruck des American Spirit: «Wir müssen der
Welt die Stirn bieten – wir sind nicht wirklich frei, wenn wir dazu
auf andere angewiesen sind.» Er braucht den Widerspruch geradezu:
Als nach der Tilgung der Hypothek die Banken plötzlich Ruhe geben,
befällt Langley Trübnis. Erst als ein Drohbrief der Stromversorger
eintrifft, kann der Erzähler «spüren, wie er erwachte, als habe man
einen schlafenden Löwen geweckt».
Die beiden Brüder in ihrer Raumsonde sind nicht weniger als
Beobachter der Beobachter, sie arbeiten sich durch Presseberge,
ohne die Meinungen zu übernehmen. Lebenslang trägt sich Langley mit
dem Projekt einer Universalzeitung, in der – gültig für alle Zeit –
die Ideen selbst abgebildet wären, nicht deren wiederkehrende
Abbilder. Dazu also sollten ihm die wuchernden Archive dienen. Es
ist ein schmerzlich ironischer Clou, dass der Autor schließlich
nicht ihn, sondern den musischen Bruder in jene körperlose
Idealität abdriften lässt, obwohl sie diesem nur als «unendliche
Leere eines Denkens ohne Substanz» erscheint. Homer und Langley
scheitern auch bei Doctorow an der Realität, aber sie scheitern als
Fackelträger der echten, inneren Freiheit.
E.L. Doctorow Homer &
Langley Aus dem Amerikanischen von Gertraude Krueger.
KiWi, Köln 2011. 220 S., 18,95 €
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