Wie ich begann …

Der Roman „Es waren Habichte in der Luft“ war eine Wegmarke der deutschen Nachkriegsliteratur – und der Erstling von Siegfried Lenz, der im März seinen 80. Geburtstag feiert. Eher selbstironisch als gerührt blickt er auf 1951, das Jahr seines Debuts, zurück.

Mutlos wird man erst später. Natürlich wusste ich mit dreiundzwanzig, dass es eine Literatur gab, eine erhabene Denunziation der Welt, eine erdrückende Sammlung von Welterfahrung. Und ich kannte bereits Schriftsteller, die dem Menschen auf so kunstvolle und abschließende Weise seine Untauglichkeit bescheinigt hatten, dass nichts mehr hinzuzufügen war. Alle Grundkonflikte waren endgültig dargestellt; was immer Menschen erlebt und empfunden hatten, war in einem Kunstwerk beerdigt worden.
Doch obwohl Klassiker mich warnend umstellten, resignierte ich nicht. Obwohl eindrucksvolle Literaturgipfel zum Verzicht überredeten, wurde ich nicht mutlos. Mit dreiundzwanzig hielt ich es für nötig, mein erstes Buch zu beginnen, und zwar im Vertrauen darauf, dass die Erfahrungen, die ich in Krieg und Nachkrieg gemacht hatte, exemplarisch und deshalb mitteilenswert waren. Mich interessierte es nicht, ob ich diesen Erfahrungen – vor allem Flucht und Verfolgung – stilistisch gewachsen war, und ich dachte auch nicht daran, meine formalen Möglichkeiten zu erkunden. Worauf es mir ankam, war dies: gemachte Erfahrung in der Erzählung wiederzubeleben und sie einem Leser zum Vergleich anzubieten, der nicht weniger verschont worden war als ich selbst. Deshalb verzichtete ich auf jede Rückendeckung durch einen Verlag; an Vorschuss wagte ich nicht zu denken. In erträglich abgesicherter Lage kaufte ich mir ein leeres Kontobuch mit extra weitem Linienabstand, überschlug meine Zeit und fing an zu schreiben.
Und dadurch wurde die Erträglichkeit meiner Lage im Jahr 1949 bezeichnet: Meine Frau und ich arbeiteten im Feuilleton einer englischen Besatzungszeitung; wir hatten ein warmes Zimmer mit Kochgelegenheit; wir besaßen aus dem Nachlass der Kriegsmarine eine Schreibmaschine, die alle tippenden Stabsobergefreiten erduldet hatte und somit dem härtesten Anschlag gewachsen war. Ein geliehener Rundtisch stand bereit, jede Last zu tragen. Da die Redaktionsarbeit am frühen Nachmittag begann, bot sich für die Arbeit am Roman nur der Vormittag an, die Zeit, die sonst für Besorgungen blieb, für Freunde, die täglich hereinschauten, für die Vorbereitung des Mittagessens.
So begann ich, gleich nach dem Frühstück, die Arbeit an dem Roman „Es waren Habichte in der Luft“ – ungeduldig, hartnäckig und, worüber ich heute am meisten staune, ohne Schwierigkeiten der Konzentration. Ja, wenn ich heute an die Umstände denke, unter denen mein erstes Buch entstand, dann blicke ich nicht nur neidvoll, sondern auch fassungslos auf den schreibenden jungen Mann gleichen Namens, dem es offenbar gelang, zu einer Form der Konzentration zu finden, die man nur gnadenlos nennen kann. Nichts beeinträchtigte meine Sammlung; weder süßsaurer Linsengeruch aus der Kochecke noch das vergnügte Palaver, das meine Frau hinter meinem Rücken hielt. Nie kam ich in Versuchung, das auf dem Korridor trommelnde Kind meiner Wirtin unschädlich zu machen; ich war sogar in der Lage, schreibend einen Freund zu beobachten, der an meinem Arbeitstisch mit epischem Genuss eine geräucherte Makrele verspeiste. Vermutlich gelang mir diese abnorme Konzentration, weil durch die damaligen Umstände der Tatbestand der Notwehr erfüllt war.
Während ich also am Nachmittag Kulturnachrichten redigierte, das Feuilleton umbrach, älteren Redakteuren Zugverbindungen zusammenstellte, und während ich zweimal in der Woche an Abendseminaren der Universität teilnahm – auch als Journalist setzte ich zunächst mein Studium fort –, schrieb ich in den Vormittagsstunden die Geschichte Stenkas, eines Volksschullehrers, auf der Flucht vor seinen Verfolgern.
Ich war selbst auf der Flucht gewesen; in Abständen träumte ich damals den archetypischen Standardtraum: ein Horizont von triumphierenden Verfolgern, die magnetischen Behinderungen eines Fliehenden; dort Ausdauer und höhnische Überlegenheit, hier Erschöpfung und durch Angst gelähmtes Bewusstsein. Sosehr der Fliehende auch danach verlangte, die Welt bot weder Schutz noch Verstecke. Alles, was die Erfahrung der Flucht lehrt oder hervorruft: Angst, List, Tarnung und durch Not geschärfte Instinkte, das Deuten von Zeichen ebenso wie eine siebenfache Vorsicht – alles, was Flucht mit sich bringt, hatte ich, mitunter widerwillig, an mir selbst erlebt, und davon wollte ich erzählen.
Allerdings, ich hielt es für zweckmäßig, mir selbst diese Erfahrungen zu entziehen und sie auf eine erfundene Person zu übertragen, auf Stenka, den Volksschullehrer. Und indem ich diese Erfahrungen mir selbst entzog, entzog ich sie auch der Zeit, meiner Zeit: Stenka, der Gehetzte, hat seinen Auftritt nach dem Ersten Weltkrieg, in den finnischen Wäldern. Er flieht nach einem politischen Umsturz, taucht unter, tarnt sich und erlebt als Flüchtiger die Spielarten von Anteilnahme und Opportunismus, von wortloser Güte und banaler Bösartigkeit. Mir kam es nicht allein darauf an, die seelische Verfassung eines Fliehenden zu beschreiben, ebenso interessierte mich die Frage, wie sich eine Gesellschaft in ihren Reaktionen auf den Verfolgten darstellt oder bloßstellt.
Ich merkte früh, dass Erfahrungen allein nicht ausreichen, wenn sie nicht durch Erfindungen beglaubigt werden. Pure Erfahrung, für sich selbst ausgebreitet, tritt ja mit dem dröhnenden Anspruch auf, ein für immer gesicherter, ein wahrer Besitz zu sein. Doch jeder Versuch zeigt, dass er nur bei dem Anspruch bleibt: Niemand kann die präzise Wiederholbarkeit erfahrener Augenblicke garantieren. Erst durch Verwandlung, und das heißt durch Erfindung, erhält Erfahrung eine Chance, auf langfristige Weise „wahr“ zu werden.
So erfand ich also dem flüchtigen Volksschullehrer Stenka eine Umwelt, die seinen Zustand mannigfaltig reflektiert und die mit seiner jeweiligen Situation korrespondiert. Nicht nur, dass das Äußere verformt wird durch das Innere – um die selbst gesetzten Forderungen eines symbolischen Realismus zu erfüllen, werden die Etappen der Flucht durch entsprechende Symbole gespiegelt, Habichte vor allem, die hier auf die Nähe von Gefahr und Bedrohung hinweisen; auch wenn die Existenz eines Verfolgten als sehr intensive Existenz angenommen werden kann: So pünktlich, so viel sagend stellen sich die Symbole des Unheils wohl nun doch nicht ein wie in meinem ersten Roman. Mit dreiundzwanzig glaubte ich offenbar, dass ein Zuwachs an Erkenntnis nur aus dem Wesentlichen zu gewinnen sei und dass das so genannte Wesentliche kenntlich gemacht werden müsse durch signalhafte Zeichen. Bach, See, Schilf, Kiefernwald: Was der Verfolgte auch streift oder passiert, alles hält ein symbolisches Echo auf seine Angst bereit. Ein symbolisches Scheitern drängte sich da zum Schluss wie von selbst auf.
Nach etwa anderthalb Jahren war mein erster Roman „Es waren Habichte in der Luft“ fertig, geschrieben an den freien Vormittagen, mitunter auch an Wochenenden. Meine Frau tippte ihn aus dem Kontobuch ab, knapp dreihundert Seiten, und Freunde gaben ihren Senf zu den einzelnen Kapiteln. Was nun? Ich hatte keinen Vertrag, hatte noch nicht mal Beziehungen zu einem Verlag, deshalb war es müßig, an Vorschuss zu denken. Die Erfahrungen der Flucht waren zwar fixiert und konkretisiert, und theoretisch hätte mir das genügen können; aber ich begann einzusehen, dass persönliche Erfahrung erst dann eine Valuta zu werden beginnt, wenn andere Gelegenheit erhalten, sie mit ihrer Erfahrung zu vergleichen. Das Manuskript musste also veröffentlicht werden, und die erste Möglichkeit ergab sich in der Zeitung, die damals eine englische Besatzungszeitung war.
Als so genannter Jungredakteur im Feuilleton hatte ich mitbekommen, wie schwierig die Suche nach geeigneten Fortsetzungsromanen war; man war in ständiger Verlegenheit, weil die Konflikte nicht überschaubar waren, weil Begebenheiten in Deskription ertranken, weil es in einem Buch an minimaler „Spannung“ fehlte, und mitunter entschied auch die Tatsache, dass ein durchaus brauchbarer Roman einen unliebsamen Autorennamen trug.
Ich konnte beim besten Willen nicht beurteilen, ob mein erstes Buch alle Forderungen erfüllte, um der besonderen Ästhetik eines Fortsetzungsromans zu entsprechen. Eher neugierig auf das Gutachten als hoffnungsvoll, gab ich meinen Packen in die Lektorenzentrifuge, wurde, da offenbar gerade ein Engpass herrschte, schon nach überraschend kurzer Zeit zu Willy Haas gerufen, und Captain Haas, seinerzeit kultureller Chefberater des Blattes, bot mir einen Gin an und die Aussicht, mein erstes Buch bereits nach vierzehn Tagen in der Zeitung gedruckt zu sehen, in Fortsetzungen. Er schickte mich in die Verlagsleitung, Abteilung Lizenzen, und dort bot man mir, ohne Einleitung, ein Honorar von dreitausend Mark – eine Summe, die zwar nicht mein Weltgefühl veränderte, die aber doch so unbegreiflich hoch war, dass neue Wünsche wie Pilze wuchsen.
Am Tag der Vorankündigung – es war ein Samstag – kam ich von meiner ersten beruflichen Auslandsreise zurück, und in Frankfurt stürzte ich zu einem Kiosk und kaufte mir ein Exemplar der Zeitung. Nicht auf dem Bahnsteig, erst im Abteil schlug ich das Blatt auf, genauer: Die Feuilleton-Beilage zwischen Daumen und Zeigefinger, ließ ich Politik und Anzeigen einfach weggleiten, entdeckte sogleich die Voranzeige mit meinem Bild, las sie und las sie noch einmal. Was mich erstaunte: wie undeutlich der Inhalt meines ersten Romans wiedergegeben wurde. Da sollte offenbar einem unbekannten Leser Appetit gemacht werden durch schweifende Andeutung, durch viel sagende Ungenauigkeit; gleichzeitig wurde ihm versprochen, dass er sich dem „Sog der Handlung“ nicht würde entziehen können. Ich muckte auf: Mir war nicht an einem Leser gelegen, der sich in einen Sog bringen ließ; er sollte nur eine Gelegenheit erhalten, seine eventuellen Erfahrungen mit meinen Erfahrungen abzustimmen, um gegebenenfalls seine Schlüsse daraus zu ziehen.
Was mich noch mehr erstaunte, ja, was einer Kränkung gleichkam: Mein Gegenüber im Abteil, ein mürrischer Reisender, blätterte das gleiche Blatt durch. Nachdem er mich skeptisch gemustert hatte, überflog er die Schlagzeilen, studierte intensiv Bilder und Bildunterschriften, und ich dachte: Gleich, gleich ist er beim Feuilleton, wird dein Bild entdecken, wird vergewissernd aufblicken, lächeln und nach geglückter Identifizierung ein Gespräch suchen.
Er las gleichmütig den Titel meines ersten Romans, nahm ebenso gleichmütig von meiner Fotografie Kenntnis, und dann ging er zu den vermischten Verbrechen über, ohne sein Gegenüber entdeckt zu haben.
Nun erschien also jeden Tag eine Fortsetzung, und fast jeden Tag rief der Umbruchredakteur an mit der Bitte, ihm einige Zeilen zu kürzen, oder, damit die Fortsetzung mit dem so genannten Höhepunkt endete, einige Zeilen dazuzuschreiben. Nach seiner Auffassung durfte es für den Leser keine Möglichkeit des „Entrinnens“ geben; ja, der Umbruchredakteur riet mir, den Schluss jeweils so „anzuspitzen“, dass sich beim Leser das Gefühl einstellte, ohne die nächste Fortsetzung nicht leben zu können. Ich widersprach ihm, lehnte eine Nötigung des Lesers ab; doch während wir uns mit einem Prinzipienstreit aufhielten, geschah etwas, was ich so schnell nicht erwartet hatte: Es trudelten tatsächlich Leserbriefe ein. Der Roman wurde also tatsächlich gelesen, er löste Reaktionen aus, der fliehende Stenka erhielt Antwort auf die Angebote zum Vergleich von Erfahrungen. Was aber sagten die Leserbriefe?
Obwohl ich damals das Recht des Lesers verteidigte, aus einem Buch zu beziehen, was seiner Lage entspricht – das heißt, souverän und subjektiv mit einem Buch zu verfahren –, konnte ich mit den formulierten Reaktionen nicht zufrieden sein; man bescheinigte mir etwas, was ich am allerwenigsten bescheinigt bekommen wollte – Spannung nämlich.
Auf dem Umschlag der Erstausgabe sind Beispiele dafür abgedruckt: „Latente Spannung“, „Notwendige Spannung“ und ganz schlicht „Spannung“ wird da einem Buch nachgesagt, bei dem es mir auf manches andere ankam, nur nicht darauf, den Leser durch forcierte Spannung unter die Schraube zu bringen. Wurde ich missverstanden, galt Spannung mehr als das Psychogramm der Flucht, das ich zu beschreiben versucht hatte? Da es zu nichts führt, wenn ein betroffener Autor sich in Leserschelte rettet, begann ich mich zu fragen, welche Fehler ich gemacht haben könnte: Schließlich liegt es ja fast immer am Autor, zu welch einem Resultat eine Lektüre führt.
Schon nach der Veröffentlichung der ersten Fortsetzungen fragten Feuilleton-Mitarbeiter, die Verbindungen zu Verlagen hatten, wo denn das Buch – in Buchform – erscheinen werde, und zwei boten sich an, Durchschläge des Manuskripts in die Verlagsmühle zu bringen. Der einheimische Verlag, Hoffmann und Campe, meldete sich zuerst, bot mir einen Vertrag an, den ich sehr schnell unterschrieb. Er verpflichtete sich, das Buch angemessen auszustatten und es zu Ostern 1951 herauszubringen, mit einer Startauflage von 3000 Exemplaren, zum kulanten Preis von 9,80 DM.
Der Verlag hielt Wort: Kurz vor Ostern kreuzte der Vertriebschef bei uns auf, spielte uns Feierlichkeit vor, versteifte ordentlich und benutzte Wörter, die mit Bedeutung befrachtet waren: Da man sein erstes Buch nur einmal überreicht bekäme, meinte er, gelte es, dieses „Augenblicks inne zu werden“. Natürlich nahm ich das erste Exemplar stehend in Empfang. Mich störten weder das miese Papier noch der amateurhafte Schutzumschlag, ich hielt mein erstes Buch in der Hand, und um dem Augenblick gewachsen zu sein, entkorkte ich eine Flasche Samos, schweren Süßwein, den der Gemüsehändler schon für einsachtzig verkaufte. Wenn nicht das zweite, das dritte Glas wirkte wie ein verlässlicher Hammerschlag. Die Dauer meiner damaligen Ohnmacht kann ich mir nur so erklären, dass meine Frau zu bestimmter Zeit eine zweite Flasche geholt haben muss.
Jedenfalls, das Buch war erschienen, und als seltsame Folge stellte sich ein unerwartetes Existenzgefühl ein: Wir beschlossen, nicht mehr mit der vielfach verwendbaren Munitionskiste als Hauptmöbel zu leben; mit dem Buch als Rückendeckung leisteten wir uns die erste Bettcouch. Und nicht nur dies: Mit der Hälfte des Honorars, das ich für den Vorabdruck erhielt, kauften meine Frau und ich uns zwei Fahrkarten – gut für eine Afrikareise auf einem der ersten deutschen Bananendampfer nach dem Krieg. Und so gondelten wir mit dem Bus nach Bremen, um uns einzuschiffen; selbstverständlich erhielt der erstaunte Kapitän als Gastgeschenk „Es waren Habichte in der Luft“. Während wir durch die kabbeligen Wellen der Biskaya dampften, wurde mein erstes Buch offiziell wahrgenommen.
Was das bedeutete, erfuhr ich nach meiner Rückkehr. Mein Verleger, sozusagen alte Schule, lud mich in den Verlag ein, und umständlich, in weit schwingenden Gesprächskreisen, steuerte er bei dünnem Tee auf das Geständnis zu, das er direkt nicht zu äußern wagte: Er sei, wenn man alles bedenke, wenn man vergleiche, auch die Schwierigkeiten in Betracht ziehe, wenn man das Wagnis nicht zu gering veranschlage, die Namenlosigkeit berücksichtige, also das Anfängertum, und wenn man den Buchmarkt, die soziologische Umschichtung, nicht zu vergessen Gutenberg persönlich, wobei Hamburg als Stadt des Kaufmanns gewiss eine Rolle spiele, wenn er also alles unter dem Strich zusammenziehe, dann müsse er mir gestehen, dass er zufrieden sei. Dreizehnhundert Exemplare waren verkauft. Vorsichtig legte er einen Umschlag auf den Tisch: die Kritiken. „Nur damit Sie erfahren, wie man Sie zur Kenntnis genommen hat.“
Ich las die Kritiken, und ich war weniger darüber verblüfft, wie man mich zur Kenntnis genommen hatte, als vielmehr über die Tatsache, wo überall das geschehen war. Der arme Stenka, dem ich meine Erfahrungen geliehen hatte, bekam nicht nur in den Tages- und Wochenzeitungen seine Zensuren; seine Glaubwürdigkeit wurde bestätigt oder bezweifelt in einer Zeitschrift für Wasserfreunde, in einem Fleischerblatt, in einem Ärzte-Magazin, ja sogar im Feuilleton eines Periodikums, das die Hamburger Gaswerke herausbrachten. Ich musste glauben, die ganze Welt habe meine Symbole der gelassen schwebenden Habichte zur Kenntnis genommen; denn auch eine Lederwarenzeitschrift hatte sich mit meinem Buch auseinander gesetzt.
Doch ich lernte bald, dem Gedächtnis zu misstrauen beziehungsweise die Einprägsamkeit meines Titels zu bezweifeln. Zuerst reagierte ich nur säuerlich amüsiert, wenn Leute mich fragten, ob ich es nicht sei, der da dies Buch über Störche geschrieben habe, und ich kam jedes Mal in Versuchung, den genauen Titel zu nennen. Es blieb nicht bei Störchen. Um anzuzeigen, dass ihnen mein erstes Buch zumindest unter die Augen gekommen sei, warteten Gesprächspartner so ziemlich mit allem auf, was die Ornithologie in nördlichen Breiten für möglich hält: Krähen, Elstern, Möwen, Kolkraben, Bussarde, Seeadler. Haben Sie nicht das Buch über die Wanderfalken geschrieben? Über Nebelkrähen, sagte ich manchmal, der genaue Titel heißt: Nebelkrähen sehen dich an. Immerhin, es waren Vögel, und nach einiger Zeit der Betroffenheit war ich auch mit einer Wildgans zufrieden.
Der Text der zweiten Auflage wurde nicht geändert. Der Umschlag allerdings zeigte kreisende Vögel, die eine verblüffende Ähnlichkeit mit Sperbern haben – Habichte sind es jedenfalls nicht.

„Wie ich begann…“ von Siegfried Lenz erscheint im Februar 2006 erstmals in Buchform in dem autobiografischen Band „Selbstversetzung. Über Schreiben und Leben“ im Hoffmann&Campe Verlag. Parallel erscheinen im selben Verlag über 150 Erzählungen und Geschichten aus 50 Jahren in einem Band

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