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(picture alliance) Die Flucht in die Scheinnormalität ist keine Lösung

Eurokalypse - Wenn die Krise zur Normalität wird

Die Gesellschaft ist im Umbruch. Die Finanzkrise ist wirtschaftlich in Deutschland noch gar nicht durchgeschlagen, da verändert sie längst den gesellschaftlichen Blick auf die Normalität. Am Ende drohen Werte der Aufklärung auf unbestimmte Zeit verloren zu gehen 

„Ja, es war außergewöhnlich. Ja, das Ganze war unmöglich. Aber ich hatte schließlich das Unmögliche akzeptiert. Lebte damit. Ich hatte aufgegeben, für meine innere Welt, mein reales Leben [...] das Übliche zu erwarten. Im Hinblick auf die Öffentlichkeit, die Außenwelt, konnte von Normalität schon lange keine Rede mehr sein. [...] Während um uns herum alles, jegliche Form öffentlicher Ordnung, zerbrach, lebten wir weiter, richteten wir uns ein, als sei nichts weiter geschehen.“    

Diese Zeilen entstammen dem dystopischen Roman „Die Memoiren einer Überlebenden“ von Doris Lessing. Sie hat 2007 den Nobelpreis für Literatur erhalten. Der Roman blickt in das Leben einer älteren Frau, die engagiert den Verfall in der Gesellschaft nach einem nicht näher erläuterten Krisenereignis beschreibt sowie das Phänomen, sich in einer Art Scheinnormalität einzurichten. Gesellschaftszerfall? Verfall der öffentlichen Ordnung? Scheinnormalität? In diesen Tagen, Wochen und Monaten seit Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise wird immer offensichtlicher, dass sich die Gesellschaft im Umbruch befindet.     

Die Wochenzeitung „DIE ZEIT“ hat in einer ihrer jüngsten Ausgaben schon eine beängstigende Ruhe ausgemacht, die sich über diesen europäischen Sommer gezogen hat und rein vorsorglich schon den Abschied von den südeuropäischen Ländern verlautbart. Ermattet nehmen wir zur Kenntnis, dass der europäische Zentralbankchef  Mario Draghi alles, aber wirklich alles unternehmen will, den Euro als gemeinsame Währung zu erhalten. François Hollande, Mario Monti und Angela Merkel stehen dem in nichts nach und beeilen sich, ähnliche gemeinsame Beruhigungserklärungen an die Märkte auszusenden. Wenn hohe Staatsleute und Funktionäre derartiges gebündelt bekunden, muss es um Europa schon ziemlich schlecht stehen.    

Was erwartet uns also? Um dieser Frage nachzugehen, sollten wir einen Blick zurück auf den Beginn und auf den bisherigen Verlauf der Krise nehmen. Hätte der Durchschnittsbürger von 2012 dem Durchschnittsbürger von 2007 erzählt, dass die europäischen Staaten allen voran Griechenland mit Rettungspaketen in Milliardenhöhe beispringen werden, wäre der Bürger von 2007 in unglaubliches Staunen verfallen. „Griechenland raus aus der Eurozone?“ Für manch politisch kurzsichtigen Akteur hat das heutzutage schon gar jeden Schrecken verloren, für den Durchschnittsbürger von 2012 jedenfalls ist es kein unrealistisches Szenario mehr. Der Bürger von 2007 würde dem nur mit offener Kinnlade begegnen. 

Die Finanzkrise hat wirtschaftlich die Deutschen noch gar nicht erreicht. Die südeuropäischen Staaten demgegenüber ächzen bereits massiv unter der Krise. Es zeigt sich, wie schwer es Griechenland fällt ein vernünftiges Staatswesen aufzubauen. Steuern können bisweilen nicht eingenommen werden und es fehlt an grundlegenden Einrichtungen wie einem funktionierenden Katasteramt. In Spanien hat die Jugendarbeitslosigkeit mit knapp 25 Prozent ein neues Allzeithoch erreicht.

Die Verfassungsorgane in Deutschland indes hat die Krise längst erfasst. Dass vor allem die Bundesregierung in Gestalt von Angela Merkel und Wolfgang Schäuble und die Karlsruher Richter im offenen Widerstreit um den richtigen Weg aus der Krise ringen, ist in der Form einmalig in der Geschichte der Bundesrepublik. In dieser Krise steht längst der Fortbestand des Grundgesetzes infrage. Die schier immer höheren Haftungssummen, für die Deutschland einstehen soll, entzieht sich immer weiter dem Einfluss der gewählten Volksvertretung, dem Bundestag.

In rasender und beängstigender Geschwindigkeit verschiebt sich der gesellschaftliche Standpunkt von Normalität. Was gestern noch unvorstellbar war, ist heute ein wahrscheinliches Geschehen. Was uns früher in Angst und Schrecken versetzt hätte, nehmen wir heute mit einem gewissen Gleichmut zur Kenntnis. Man kann dieses Phänomen Krisennormalität nennen. Wir versuchen dem schier Unfassbaren, Unbegreifbaren, Unvorstellbaren Normalität überzustülpen. Lessing schreibt dazu:  

„Man gewöhnt sich an alles. Das ist natürlich ein Gemeinplatz, aber vielleicht muß man einmal eine solche Zeit mitmachen, um die furchtbare Wahrheit dieses Spruches zu begreifen. Genau das war es, was jener Zeit ihren eigentümlichen Charakter gab; die Verbindung des Bizarren, Hektischen, Furchterregenden, Bedrohlichen [...] mit dem Herkömmlichen, Normalen und sogar Annehmbaren.“    

Auf der folgenden Seite, warum wir die Werte der Aufklärung weiterhin verteidigen müssen 

Wir bauen uns eine Art persönlichen Schutzmechanismus auf. Im Privatleben können wir nicht permanent dem Abgrund entgegenblicken. Das Leben dreht sich weiter. Wir gehen auf Geburtstage, auf Hochzeiten, wir renovieren das Wohnzimmer und beschäftigen uns gerade nicht permanent mit der Eurokrise. Dabei greift sie inzwischen die Grundfesten unserer Demokratie an, ja unseres Zusammenlebens beruhend auf den Werten der Aufklärung.

Was alles kommt nun auf uns zu? Der Zerfall der öffentlichen Ordnung, wie er in Lessings Roman skizziert wird, ist in der Realität, in Deutschland noch ein vages, verzerrtes Bild. Es gibt wohl kein Land in Europa, vielleicht sogar weltweit, das sich so sehr mit Bürokratie und Verwaltung identifiziert. Wenn zum Beispiel Neapel seit Jahren unter einem Müllnotstand leidet, weil mafiöse Strukturen an die Stelle der Kreislaufwirtschaftsverwaltung getreten sind, erzeugt das in Deutschland Befremden. Die Bewohner Neapels nehmen diesen Umstand als Teil ihrer Normalität wahr. Dieser Umstand ist zu ihrer Normalität geworden, sie haben sich daran gewöhnt.   

In Deutschland ist es unvorstellbar, dass die Kreislaufwirtschaft zusammenbrechen wird. Das Kreislaufwirtschaftsgesetz und seine Rechtsverordnungen sind robust und regeln ziemlich detailliert Abfallbeseitigung, Abfallverwertung, Deponieerrichtung und Unterhaltung. Und bisher setzt die Verwaltung diese Rechtsnormen einwandfrei um. Das sind wir so gewöhnt. Nun muss man sich nur die bereits angesprochene Krisennormalität vergegenwärtigen und so wäre es nicht verwunderlich, dass wir Durchschnittsbürger von 2012 nur mit ungläubigem Staunen den zukünftigen Berichten des Durchschnittbürgers von 2017 folgen würden, wenn er über Müllnotstände in Köln, Hamburg oder Berlin spräche. Noch hat Deutschland eine funktionierende Rechtsordnung. Die Anzeichen für eine negative Entwicklung sind bisher gering. Sollten die Billionenbürgschaften irgendwann jedoch tatsächlich fällig werden, kann die Krisendynamik auch schnell das bisher Unvorstellbare in die Realität verwandeln. 

Die Krise verlangt uns daher einiges ab. Der Staat und seine Einrichtungen stehen zur Disposition, im Vakuum der Verhältnisse ist das Vermächtnis der Aufklärung in Gefahr, von den äußeren Umständen beseitigt zu werden. Soll an seine Stelle dann wieder das Recht des Stärkeren treten? Dazu muss es nicht zwangsläufig kommen. Wenn die Gesellschaft sich dieser äußeren Umstände rechtzeitig gewahr wird und die Zukunft gestaltet im Bewusstsein all jener Errungenschaften, die die Freiheit des einzelnen und den Minderheitenschutz garantieren, die Demokratie, Rechts- und Sozialstaat gewährleisten, dann muss der Umbruch nicht ins Negative umschlagen.

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Es kommt also darauf an, sich nicht wehrlos den äußeren Umständen zu ergeben, sich in einer Scheinnormalität einzurichten, sondern seine Umwelt und die Vorgänge darin kritisch zu begleiten und für die Werte der Aufklärung einzustehen. Wenn uns das gelingt, muss uns vor der Zukunft nicht Angst und Bange sein.

In der Negativ-Utopie Lessings müssen die Protagonisten am Ende durch eine Wohnzimmerwand von der zerrütteten in eine andere vermutlich bessere Welt fliehen. Diese Wand ist imaginär. Wir müssen uns mit der Realität abfinden. Noch haben wir Zeit mit den Werten der Aufklärung im Gepäck in Richtung Zukunft zu schreiten. Die Krisennormalität indes verblendet unsere Sicht jeden Tag ein Stückchen mehr.    

Doris Lessing: Die Memoiren einer Überlebenden, Roman, 1974 erstmalig veröffentlicht, ist 2007 in 14. Auflage beim Fischer Taschenbuch Verlag erschienen

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