Dieses Bild ist leider nicht mehr verfügbar
picture alliance

Empörungsmaschine Internet - Wenn der Shitstorm zum Alltag wird

Es vergeht kaum eine Woche, in der nicht eine neue Sau durchs digitale Dorf gerieben wird. Gibt es also eine Tyrannei des Netzes? Nein, meint Christian Jakubetz und erklärt, warum das Internet als Meinungsmacher maßlos überschätzt wird

Autoreninfo

Christian Jakubetz, Jahrgang 1965. Stationen u.a. beim ZDF, N 24, ProSiebenSAT1 sowie bei diversen Tageszeitungen. Dozent u.a. an der Deutschen Journalistenschule in München und Lehrbeauftragter an der Universität Passau. Herausgeber des Buchs “Universalcode” (Euryclia, 2011). Seit 2006 freiberuflich tätig u.a. für das ZDF, die FAZ und die deutsche Ausgabe von “WIRED”. Blogger mit “jakblog.de”.

So erreichen Sie Christian Jakubetz:

Mal angenommen, es ist wirklich so: Die Welt besteht aus Atomen, einer Menge Raum - und der Rest ist nur Meinung. Reine Ansichtssache. Dann würden am Ende immer diejenigen die Welt und ihren Lauf der Dinge bestimmen, die ihre Meinung am ehesten durchbringen können. Angenommen also, es wäre so - dann wäre das Netz zumindest in der Theorie das wirkungsmächtigste Machtinstrument, das es jemals gab. Schließlich war es noch nie so einfach, Meinungen unter die Menschheit zu bringen wie im digitalen Zeitalter. Man muss ja nicht gleich die Geschichte vom Schmetterling bemühen, dessen Flügelschlag ganze Gebäude zum Einsturz bringen kann. Fürs erste reicht auch die Geschichte eines Aufschreis, der ganze Gesellschaften zum Umdenken oder wenigstens zum Diskutieren bringen soll.

Man hat alleine in diesem Jahr schon eine ganze Menge an Erregungswellen gesehen, die durch das Netz gegangen sind. Der Shitstorm wird zum Alltag, der Aufschrei zur Gewohnheit. Irgendeine Sau wird ja immer durchs digitale Dorf getrieben. Würde man dem Eindruck aus dem Netz folgen, die Welt würde demnach gerade eine andere. Voll von Bewegungen, die von der Basis kommen, ganze Gebilde zum Einsturz bringen und die so etwas ähnliches wie eine neue Macht suggerieren. Und hat man nicht tatsächlich dem Brüderele und den ganzen anderen Grapschern eine ordentliche Abreibung verpasst? Tatsächlich ist das eine Wahrnehmung, die man haben könnte, würde man sich ausschließlich auf die inneren Zirkel des Netzes verlassen. Da war der Aufschrei ein großes Thema, so wie es allerdings auch schon der Bundespräsident, die Deutsche Bahn oder der angekündigte Facebook-Relaunch und das tragische Ende des Google Readers waren.

Gibt es also eine Tyrannei des Netzes, eine Art Gesinnungsterror, eine Meinung, die von sehr wenigen gemacht, dafür aber von umso mehr weiter verbreitet und damit zum Allgemeingut gemacht wird? Wenn das so wäre, dann müsste es ein homogenes Netz geben, in dem sich alle gleich bewegen, das für alle die gleiche Bedeutung hat, das also meinungsmachend in dem Sinne ist, wie es die klassischen Massenmedien waren und teilweise immer noch sind. Ein solches Netz aber gibt es nicht. Es gibt unendlich viele kleine Mikronetze, die mehr oder weniger friedlich nebeneinander her existieren. Das schließt nicht aus, dass sich Stimmen und Meinungen aus diesen Mikronetzen für eine kurze Zeit zusammenschließen, zu einem Meme werden und manchmal sogar zu richtigen Meinungen und Bewegungen. Danach aber lassen sie sich gegenseitig wieder los, die schnell und kurzfristig miteinander Vernetzten, und pflegen wieder ihre eigene Sicht der Dinge. Nirgendwo geht das so schnell und einfach wie im Netz.

In diesen kleinen Netzen ist die Welt tatsächlich klein, die digitale Bequemlichkeit macht es möglich, dass man sich dort ohne störende Einwürfe von außen gegenseitig versichern kann, wie recht man doch hat.

Um das mal in Zahlen zu fassen: Wenn ein Blogger heute auf seiner Seite 10.000 Besucher hat, dann ist das schon ganz ordentlich. Wenn ein Hashtag wie der #Aufschrei an einem Tag 70.000 Mal verwendet wird, dann ist das enorm viel.  Gemessen an Massenmedien sind das Mikrowelten, in denen oft genug Gleichgesinnte Gleichgesinnte treffen, die dann Gleichgesinntes austauschen. Da kommt es dann auch vor, dass man sich in noch so kleinen Communities gegenseitig versichert, völlig richtig zu liegen, der Kulturpessimist sagt den anderen Kulturpessimisten, dass sie mit ihrem Kulturpessimismus völlig richtig liegen, während sich die Aufschreierinnen auf die Schulter klopfen, wie sehr sie jetzt gerade mal eben einen gesellschaftlichen Diskurs angezettelt haben.

Übrigens sind unlängst die Verkaufszahlen von “Spiegel”, “Stern” und “Focus” erschienen, als sie sich den Sexismus jeweils als Titelthema erkoren hatten. Alle drei Titel sind mehr oder weniger grandios gefloppt, was komisch ist angesichts dessen, dass doch der Sexismus, wollte man den Aufschreierinnen glauben, zu dem gesellschaftlichen Thema schlechthin geworden ist. Das große gesellschaftliche Thema ist dennoch nicht daraus geworden. Ebenso wenig übrigens wie aus dem angeblich unwählbaren Bundespräsidenten Gauck, der gerade angesichts seines ersten Amtsjahres landauf, landab von den Medien ziemlich gefeiert wird. Wenn es aber diese ganz großen Glaubensgemeinschaften im Netz, die Meinungen und Strömungen nach Belieben erzeugen und diktieren können, wenn es die also alle gar nicht wirklich gibt, woher kommt dann dieses unbestimmte Gefühl, ganze Kolonien von Netzmenschen könnten mal eben bestimmen, was wir glauben? Die Antwort ist simpel: Zwar ist inzwischen fast jeder irgendwie im Netz, aber damit umgehen können nur wenige. Diese wenigen wissen, wo man welchen Hebel ansetzen muss, wie man den richtigen Hashtag, die richtige Plattform, die richtige Darstellung wählt, um möglichst viel Reichweite und Effekt zu erzielen. Natürlich ist das Netz prinzipiell immer noch basisdemokratisch, aber generell herrscht das Recht des Lauteren, des Stärkeren und des Ausnutzens von Trägheit durch Überinformation. Gerade in den sozialen Netzwerken, in denen aus der einzelnen Information einer reißender und scheinbar nie versiegender Newsstream geworden ist, hat sich eine Kultur des schnellen und unreflektierten Mögens und Teilens breit gemacht. Soll heißen: Wer es einmal geschafft hat, ein paar Likes und Retweets zu generieren, dessen Chancen auf umso schnellere Weiterverbreitung steigen rapide. Das digitale Schneeballprinzip geht in etwa so: Man entdeckt etwas, was andere schon quasi vorgestetet und mit einem Like-Qualitätssiegel für gut befunden haben. Wenn also ein Beitrag zu irgendwas viele Likes, viele Retweets erhalten hat, können dann so viele Menschen irren? Reflektion wird vor allem dann zum Luxusgut, wenn es schnell gehen soll. Und was müsste heute etwa nicht schnell gehen? Wenn also beispielsweise der Radiomoderator Jürgen Domian nach der Löschung eines seiner Facebook-Beiträge das böse Wort von der Zensur in die Runde wirft, dann sind da schnell mal 10.000 Likes zusammen. Wenn Katja Riemann ein etwas missglücktes Fernseh-Interview gibt, holla, da geht das schnell, dass sie eine unausstehliche Zicke ist. Dass Facebook vielleicht gar nicht zensiert und der die Riemann interviewende Moderator einen erbarmungswürdig schlechten Auftritt hingelegt hat, geht spätestens dann unter, wenn die Like-Welle ins Rollen gekommen ist. Was man im Übrigen aus dem richtigen Leben ebenfalls kennt. Wer mag schon der Spielverderber sein, wenn sich gerade alle so schön auf einzelne eingeschossen haben? Nein, es gibt keine Tyrannei des Netzes. Es gibt ein modernes Mitlikertum, den digitalen Opportunismus. “Ihr seid alle Individuen”, ruft in Monty Phythons wunderbarem “Leben des Brian” der verzweifelte Brian der ihn verfolgenden Masse zu. Und was antwortet die im Chor? “Ja - wir sind alle Individuen.” Manche Dinge ändern sich eben nie.

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.