Das Journal - Weltrundreise, lyrisches Tagebuch

In ihrem neuen Gedichtband «berührte orte» erzählt Ulrike Draesner von der Begegnung der Kulturen und schickt Lessing in den Wald

Seit ihrem Erstling «gedächtnisschleifen» (1995) gehört Ulrike Draesner zu den Dichterinnen, denen das Gedicht als eine «Subjektmaschine» gilt – als Teststrecke und Spielraum für das, was sich im Wirrwarr der Diskurse, der Fremdbeschreibungen und Selbst-Praktiken als Subjektivität formt. Idiome, Labels und Moden, mediale wie (bio-)technologische Wirklichkeitsmaschinen werden hier nicht länger als Äußerlichkeiten verstanden, sondern betreffen das Subjekt unmittelbar: Sie berühren, verletzen und verändern es. Auch ihr neuer Band «berührte orte» fängt die Verzückungen, Verrückungen und Verformungen ein, die sich einstellen, wenn Berührung stattfindet; nur haben sich inzwischen die Berührungs­flächen geändert. Denn «berührte orte» vollzieht eine interkulturelle Ausweitung der Schreibzone: großflächige Zyklen berichten von Marokko, Syrien, Indien; Abstecher führen nach Bayern, Braunschweig, Berlin, nach Dänemark und Norwegen – eine kleine Weltrundreise, ein lyrisches Reisetagebuch.   Besonders beeindrucken darin jene Zyklen, in denen das reisende Ich den westlich-europäischen Halt unter den Füßen verliert. Draesner entwickelt ein poetisches Subjekt, das die Grundbedingung jedes ernsthaften interkulturellen Dialogs erfüllt: Es ist permanent überfordert. Ob auf dem islamischen Opferfest, an den Ufern des Ganges oder vor den «häuser(n) in die man zum / weinen geht» – stets scheint dieses Ich, das kaum je tatsächlich «ich» sagt, ein wenig zu taumeln. Gesten wollen sich nicht auf den ersten, nicht auf den zweiten Blick in die bekannten Schemata fügen («das wiegen des kopfes / das nicht nein heißt nicht / ja»); Kleidungscodes hüllen das Ich ein, bis es sich selbst kaum noch wiederfindet («schwankgestalt im morgenmanöver / genannt fussgängerzone sonnenschein der / glaswände der schuhläden der cafés und / das vermummte, die, ich») – wenn nicht das Reich der Zeichen gleich vollständig kollabiert: «unverständliches / in pseudolapislazuli die / wand».   Dabei ist der Taumel keineswegs nur befremdend, sondern auch betörend. Gelingt es, «vom frieden des ortes zu essen», verliert sich das Ich etwa in einem Dampfbad, unter den Händen der «wäscherinnen», verbinden sich die Sprachen spielerisch, dann berühren auch Körper und Orte einander, fallen ineinander. Was dann aufscheint, ist eine poetisch-utopische Alternative zum sogenannten Zusammenprall der Zivilisationen – die Berührung der Kulturen.    Politische Poesie Dabei hat sich Ulrike Draesner nicht etwa zur Idyllikerin gewandelt; Multikulti-Kitsch und Eine-Welt-Rhetorik sind hier nicht zu finden, im Gegenteil: «berührte orte» zeigt ein immer auch empörungsbereites Subjekt, die politische Dichterin. Insbesondere im Syrien-Zyklus «damaskus, manöver» greift Draesner auf Schreibtechniken der lyrischen Reportage zurück. So entdeckt das Ich nicht nur «US / Air Force auf dem feld / khaki, zu sehen / nicht da nicht offiziell». Es berichtet auch empört über den Einsatz von als Kugelschreibern getarnten Antipersonen-Minen durch die israelische Luftwaffe: «ladeklappe lautlos in 2000 / -5000 metern höhe weiter / oben für die minen zu / kalt (made in china, per / hand)»; an anderer Stelle ist nur zu lesen: «kinder klicken / kugelschreiberknopf». 

Draesners Empörung ist gerade deshalb glaubhaft, weil sie jenseits der Anklage bleibt – zu sehr ist auch die eigene Geschichte eine Gewaltgeschichte: «auch du flachnase im multi / kultisouk (spielmadonna, trippelnd / auf ball) hattest jede menge / opas im kreuzzug (rechne mal nach)». Und zu sehr hat diese Gewaltgeschichte das erschüt­tert, was im Geiste der europäischen Aufklärung als Humanismus gilt. Einer wie Lessing wird von Draesner jedenfalls erst mal auf einen Selbsterfahrungs-Trip in den dunklen Wald geschickt. In einem der Deutschland-Gedichte findet sich der Aufklärer dann an jenem Punkt wieder, an dem heillose Verirrung droht: «dunkelheit und das stehen der bäume. knackende / zweige. glühwürmchen schleppten stille ins / gras. aufklärung, licht?» Dies ist die Frage, die insgesamt über Draesners Werk steht.

 

 

Ulrike Draesner
berührte orte
Luchterhand, München 2008. 114 S., 16 €

 

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