Weiße Elefanten - Waisen, Stalker, Selbstmordkandidaten

Drei Romane für Jugendliche erzählen von pubertären Lebenskrisen - auf höchst unterschiedliche Weise

Doch, es gibt sie noch, die spannenden, interessant geschriebenen Jugend­romane. Fast fürchtete man, neben all den seriellen Fantasy- und Horrorstorys seien Geschichten, die mit der realen Welt von Jugendlichen Kontakt aufnehmen, untergegangen; und auch bei einem Titel wie «Lollis, Lügen und die Liebe» denkt man zunächst eher an eine Vorabendserie. Doch ist hier mit dem Übersetzer wohl einfach der Stabreimteufel durchgegangen. Im amerikanischen Original heißt das Buch von Susan Shreve «Under the Watsons’ Porch», und dieser Titel beschreibt nüchtern und genau, worum es geht: um den Geheimtreff zweier Jugendlicher, der sich unter der Veranda der alten Watson-Schwes­tern befindet. Er wird für beide zu einem Ort wichtiger Erfahrungen – und einer scheuen Annäherung.

Die zwölfjährige Ellie lebt mit ihren Eltern, einem Lehrer-Ehepaar, und ihrem kleinen Bruder Milo in einer unscheinbaren Familiensiedlung. Ellie gehört nicht zu den herausgeputzten Girlies, sie ist eher burschikos. Darum freut es sie umso mehr, als sie just an ihrem Geburtstag, den sie ungewollt allein verbringt, Besuch von Tommy Bowers bekommt. Der ist gerade im Haus nebenan eingezogen, er ist älter als sie und sowieso etwas Besonderes: Tommy ist Waise, er hat wechselnde Mütter und einen schlechten Ruf hat er auch.

Anfangs behagt es Ellies Mutter denn auch gar nicht, dass sich ihre Tochter ausgerechnet mit diesem schwer einzuordnen­den Jungen anfreundet. Für Ellie, die sich gerade aus ihrer behütenden Familie zu lösen beginnt, ist Tommy aber genau deshalb  der Richtige: selbstbestimmt und voller Ideen, cool. Und sogar komisch – er lädt Ellie allen Ernstes ein, gemeinsam einen Zaubergarten anzulegen, in dem sie für die Kinder der Nachbarschaft Lollis wachsen lassen wollen. Dann, so hofft Tommy, kommen alle jeden Samstag dort zusammen und bilden für kurze Zeit so etwas wie eine Familie. Das ist sein größter Wunsch.

Diskret und unpathetisch lässt Susan Shreve Ellie und Tommy voneinander lernen – er muss sich Ellies Abneigung gegen seine Klauerei stellen, sie lernt von ihm, wie wertvoll eine Familie sein kann und wie schön es ist, Vertrautheit zu empfinden. Dass die beiden einander nicht einfach nur mögen, schwingt immer mit, ohne dass die Geschichte ins Klischee von der ersten Liebe abrutscht. In der Annäherung der beiden wird offenkundig, was Zuneigung bedeuten kann: die eigene Erfahrungswelt um diejenige eines anderen zu erweitern. Susan Shreve erzählt davon angenehm beiläufig und alltagsnah, auch bei den Gefühlswirren einer Pubertierenden und der Verlorenheit des Waisenkindes kommt sie nie in Gefahr, nach dem Lehrbuchhaften zu schielen.


Starker Fall, schwache Erzählung

Das lässt sich von Christine Fehérs «Jeder Schritt von dir», der Geschichte einer Stalkerin, leider nicht sagen. Auch dieses Buch gibt packende Einblicke in die Innenwelt seiner Protagonisten, in diejenige der Täterin ebenso wie in die des Opfers. Aber Konstruktion und Perspektive sind doch spürbar von einer psychologischen Theorie her entwickelt. Das beginnt schon mit der traurigen Vorgeschichte von Alexandra. Eines Tages verlässt der Vater mit dem Halbbruder ohne Erklärung die Familie, Alexandra bleibt mit der verbitterten Mutter allein zurück. Zwölf Jahre später umsorgt sie abends die Gestresste, tagsüber geht sie ins Gymnasium und jobbt daneben in einer Zoohandlung. Vor allem aber ist Alexandra in Valentin Remus verknallt, den Helden der Serie «Tierklinik Dammtor» – eine Schwärmerei, die eines Tages eine fatale Wendung nimmt: Im Laden taucht ein Junge auf, der Valentin verwirrend ähnlich sieht.

Binnen weniger Minuten ist für Alexandra klar, dass das die große Liebe ist. Selbst als sie Arved wenig später vor der Haustür mit seiner Freundin schmusen sieht, tut das ihrer Gewissheit keinerlei Abbruch, und dummerweise lässt er sich einmal auch auf ihr Werben ein. Nach einem Streit mit seiner Freundin verbringt er einen harmlosen Nachmittag mit seiner Verehrerin, an dessen Ende ein leidenschaftlicher Kuss steht. Danach sind bei Alexandra alle Dämme gebrochen – und nun wird das Buch richtig spannend.

Christine Fehér findet einen überzeugenden Ton für die beklemmende und bedrohliche Dimension von Alexandras Besessenheit. Das Mädchen lauert Arved auf, wo immer er ist, sie verfolgt ihn beim Joggen, in die Schule, schließlich sogar ins Krankenhaus. Sie schreibt ihm pausenlos SMS und E-Mails, rückt ihm mit Geschen­ken zu Leibe und überzieht schließlich sogar Arveds Familie und seine Freundin mit Telefonterror. Wie sich die Schlinge immer enger zieht, bis der Junge schließlich flüchtet und seine Eltern juristisch gegen Alexan­dra vorgehen, das ist intensiv und in vielen Details glaubhaft geschildert – hier zahlt sich aus, dass die Autorin in der Kinder- und Jugendpsychiatrie gearbeitet hat und ihr Wissen aus erster Hand bezieht.

Für die Entwicklung nach dem Eklat aber, der letztlich auch für Alexandra eine Erlösung bedeutet, findet die Autorin nur noch blasse, klischeehafte Szenen: Jenseits des pathologischen Falls kommt Christine Fehér offenbar die Phantasie abhanden. So fehlt dann dem Schluss – vor allem bei Alexandras Versuch, ihren Vater wiederzu­fin­den – jegliche Energie. Heraus kommt insgesamt eine starke Fallgeschichte, die als Erzählung leider eher schwach ist.
 

Existenzielle Reise zu sich selbst

Eindrucksvoll im narrativen Drive wie in der perspektivischen Vielfalt und Lebendigkeit ist dagegen der Jugendroman «Zwei Wege in den Sommer» von Robert Habeck und Andrea Paluch. Auch dieses Buch ist keine leichtfüßige Sommergeschichte, es enthält vielmehr starken Tobak: Ein Jahr zuvor ist Max’ Zwillingsschwester Miriam während einer Sommernacht ertrunken, und noch immer weiß Max nicht genau, was damals geschah – er war zu dem Zeitpunkt zu betrunken. War Miriams Tod ein Unfall, ein Selbstmord oder womöglich Mord? Irgendwie hat Max seitdem weitergelebt, aber richtig verankert hat er sich im Leben nicht mehr. Am Ende des Sommers soll nun auch für ihn endgültig Schluss sein.

Doch bevor er sich verabschiedet, will er noch einmal etwas richtig Intensives erleben und verabredet mit seinem Freund Ole und dessen Freundin Svenja, die früher Miriams Vertraute war, eine Reise ins Ungewisse: Svenja und Ole werden mit der Bahn fahren, Max nimmt mit seinem frisch erworbenen Segelboot den Wasserweg. In Tornio, einem Grenzort zwischen Finnland und Schweden, wollen sie sich treffen. Der Leser geht mit ihnen auf die Reise. Anhand von Max’ Tagebuch und Svenjas Kommen­taren zu dem Roadmovie, das sie für Max unterwegs dreht, folgt man ihrem Weg. Die drei sind füreinander Freunde, Rivalen und Verbündete zugleich – von Schuldgefühlen geplagt, trauernd und doch lebenshungrig.

Die Autoren treffen den Ton Jugend­licher genau. Hegel, Alcopops, Pilze, Camus und Sex im Güterzug liegen dicht beisammen, poetische Reflexionen stehen neben konsumkritischen Diskursen und der Frage nach dem Sinn des Daseins. So wird aus dem Abenteuertrip für die drei Jugendlichen eine Reise zur Wahrheit, auch über sich selbst – unerbittlich, desillusionierend, aufregend und befreiend. Dichter als hier kann man vom aufreibenden Widerspruch zwischen jugendlicher Sehnsucht und Resignation, zwischen Coolness und Rausch, zwischen dem Wunsch nach Nähe und unvermeidbarer Einsamkeit nicht erzählen.

 

Susan Shreve
Lollis, Lügen und die Liebe
Aus dem Amerikanischen von Eva Rieckert.
dtv, München 2006. 189 S., 7,50 €

Christine Fehér
Jeder Schritt von dir. Geschichte einer Stalkerin
Sauerländer, Düsseldorf 2006. 197 S., 10,90 €

Robert Habeck, Andrea Paluch
Zwei Wege in den Sommer
Sauerländer, Düsseldorf 2006. 192 S., 13,90 €

 

«Die Monster sind krank» ist ein monströs üppiges Werk über ungeheure Wesen und deren nicht
minder grausige Krankheiten – von Wind­pocken über Migräne bis zum Schlafwandeln ist alles dabei (unter dem Stichwort «Band­wurm» erscheint als Illustration ein Ge­rippe). Gegen die Angst sollen die Kranken-Beschrei­bun­gen wirken, aber wer sie zur Hand nimmt, muss die Angst vor Monstren wie die vor Krank­heiten schon hinter sich haben – allein die abstrus pfiffigen Texte sind nichts für den Erstklässler-
Wort­schatz. Dass gegen Depressionen das Geküsst­werden empfohlen wird, freut leidgeprüfte Erwachsene, für die die Monster-Krankheiten vermutlich sowieso gemacht sind (Emmanuelle Houdart:
Die Monster sind krank. Aus dem Französischen von Edmund Jacoby. Gerstenberg, Hildesheim 2006.
40 S., 26,90 €).

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