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(picture alliance) Stirbt die Extrawurst aus?

Wortgeschichte - Wo bleibt die Extrawurst?

Ein Wort geht verloren und mit ihm die Dinge, die es bezeichnete. Nur die Literatur bewahrt das Verschwundene – extraterrestrisch gewissermaßen

Ein Wörtchen ist uns diesmal ins Netz gegangen, das keiner mehr so recht haben will. Ein kleiner Fisch, gewissermaßen. Das ist umso grausamer, als „extra“ noch vor nicht allzu langer Zeit, in meiner Kindheit nämlich, eine schöne Hervorhebung bedeutete: „Extrawurst!“ Selbstverständlich wurde sie einem gerade nicht gewährt – aber entscheidend war, dass innerlich nicht der geringste Zweifel daran bestand oder aufkam, sie zu verdienen. Heute brät sie sich jeder selbst. Und das „Extrablatt“!

Sein Schicksal ist noch trauriger, es hat sich in Luft aufgelöst, ist am Schneckentempo eingegangen, mit dem es Nachrichten, die Äonen zurücklagen, in die Schlagzeilen beförderte, lachhafter Nachzügler der flotten Twitterer: „Druckfrisch“ ist heute ein Oxymoron. Und „LORD EXTRA“? Die Zigarettenmarke, deren Schachtel ein Wappen zierte, das den Raucher zu etwas Höherem promovierte: die weiblichen unter ihnen zum Beispiel zu Stewardessen, die männlichen zu – was wohl? – genau, zum stolzen Piloten einer TWA-Boeing in blütenweißer Uniform (blütenweiß wie die Schachtel der „LORD EXTRA“).

Im Untergeschoss verblieben die „Reval“- und die „Ernte 23“-Raucher, garantiert keine extravaganten Mitbürger und Kosmopoliten, sondern solide Familienväter mit einer Wertschätzung für Hausmannskost. Heute kann man im Internet folgende niederschmetternde Vernichtung ehemaliger „Extra“-Klasse nachlesen: „Diese Zigarette ist einfach nur schlecht. Der Geschmack ist noch schlechter als das Design. Man hat nur Rauch im Mund und sucht vergeblich nach dem Lord.“ Meine Schwestern und ich pflegten einander mit dem Vorwurf zu triezen, die eine habe der anderen extra das Kuchenstück mit dem verbrannten Rand gegeben oder extra das Buch aus der Stadtbibliothek entliehen, auf das man selbst ein Auge geworfen hatte. Oder: Extra wegen dir (natürlich nicht deinetwegen) bin ich aufgeblieben! Mutter zu Vater oder Vater zu Mutter – gleich wie, „extra“ spielte eine wichtige Rolle im Pointieren, Austarieren und Sabotieren verwickelter zwischenmenschlicher Beziehungen. Aus und vorbei.

In den Achtzigern durfte sich „extra“ noch einmal kurz ein wenig aufspielen als erste Hälfte von „extraterrestrisch“. Wie tröstlich empfand ich es daher, bei der Lektüre des Joseph-Romans von Thomas Mann auf eine der Zeit enthobene Ehrenrettung des geschmähten Wörtchens zu treffen. Und zwar in der Gestalt des Mont-kaw, Vorsteher über Haus und Hof des Oberst Potiphar, Josephs Herrn, und somit Josephs unmittelbarer Vorgesetzter. Mont-kaw begrüßt des jungen Joseph blumig-poetisches Redetalent, das sich nicht allein in erlesenen Gute-Nacht-Wünschen ziseliert und entfaltet, sondern auch zu erholsamem Schlaf führt, folgendermaßen: „Wenn man Plage hat in der Welt, wie ich, und fühlt sich zuweilen auch nicht ganz extra, weil einen die Niere drückt, dann rührt einen das geradezu.“ Ein Buch aufzuschlagen, wenn einem, wie Mont-kaw, etwas an die Nieren geht, und Trost und Schlummer aus der Lektüre zu ziehen: Das kann sich als Extrakt wahrlich sehen lassen.

1955 geboren, lebt als freie Autorin in München und leitet das Studio Literatur und Theater an der Universität Tübingen. Zuletzt erschien ihr Roman Die Helligkeit der Nacht. Ein Journal im Verlag C. H. Beck

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