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(picture alliance) Zunächst geht es um Liebe, dann vor allem um Sex.

Berlin bei Nacht - Von Sinnen, Sex und Singles

Des Nachts lauert das Grauen da draußen in Deutschland. Da ziehen sie los, die Singles dieser Nation. Paarungswütige Städter im Liebesmodus

Vergessen Sie alle Probleme, die Deutschland hat. Sorgen Sie sich nicht um Hähnchenmastanlagen, um Kernenergie, nicht um Jugendarbeitslosigkeit oder Drogentote. Es ist alles nichts dagegen. Des Nachts lauert das Grauen da draußen in Deutschland. Da ziehen sie los, die Singles dieser Nation und versuchen, sich gegenseitig auszustechen. Sie geben alles, um noch ihren Teil vom Kuchen zu bekommen, bevor der Rest von ihnen durch die vielen fehlgeschlagenen Beziehungen oder das ewige Alleinsein so zerrüttet ist, dass er für eine ernsthafte Verbindung nicht mehr in Frage kommt. So treffen sich allwöchentlich diejenigen in den Nachtetablissements, Clubs, Diskotheken und Dönerbuden, die ihr Glück nicht in die Hände von Online-Singlebörsen und deren Brokern legen wollen, die noch glauben – an die Romantik des ersten analogen Aufeinandertreffens.

Ich habe sie gesehen. Letzte Woche. Vielleicht war es vor allem die Entwöhnung nach langen Monaten des – durch Schwangerschaft, beziehungsweise allabendliches Stillen – an die Wohnzimmercouch gefesselten Daseins, aber was ich erlebte, war schockierend und – ernüchternd. Es präsentierte sich das Berliner Nachtleben degradiert zum An- und Abwerbespiel einer verzweifelt nach Bindung suchenden Nation.

15,9 Millionen Deutsche leben in unserem Land ohne einen Mitbewohner, ohne Familie oder einen Partner. Das ergab der kürzlich ermittelte Mikrozensus. 70 Prozent von ihnen wünschen sich jemanden, mit dem sie ihr Leben teilen können. Diese Liebesglücklosen bezeichnen sich selbst als „unfreiwillige Singles“, wie der Psychologe Manfred Hassebrauck sagt. Damit haben wir zehnmillionenfünfhunderttausend Menschen, die permanent auf der Suche sind, die jemanden vermissen, der sie ausfüllt. Ein Gegenüber, das ihnen Vertrautheit, Geborgenheit, Sicherheit und nicht zuletzt regelmäßigen Sex verschafft.

Und eben jenes triebhafte Suchen mausert sich, je älter der Abend, zum primären Sehnsuchtsfaktor. Vor allem die Tatsache, dass sich eine fortschrittliche emanzipierte Gesellschaft von ihren moralischen Fesseln löst, erleichtert die Verbreitung „genuin biologischer Verhaltensweisen“, wie es die Forscher von der Ludwig-Maximilians-Universität in München so schön ausdrücken. Das bedeutet bei Männern promiskuitives Verhalten, um das Zeugen vieler Nachkommen zu sichern. Die Frau dagegen ist auf der Suche nach einem langfristig ressourcenstarken Partner. Schwierig aber fällt das einer Nation, die in Arbeit- und Privatalltag so überdreht, dass sie sich ob der überbordenden Auswahl immer seltener für einen Partner entscheiden kann.

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So war es auch an jenem Samstag, als ich gestandene Mitte-Hipster sah, die sich zuerst von einem grimmig dreinblickenden Herrn an der Tür mustern ließen, um dann zu Milli Vanilli, den Scorpions und Gloria Gaynor ihre Hüften zu wiegen. Das Motto war Engtanz und das ganze entwürdigend. Da hatte ich gedacht, die Zeiten seien endgültig vorbei, in denen ich mich mit wildfremden Menschen auf einer Tanzfläche herumquetsche, die systematisch künstlichen Platzmangel erzeugt, um wildfremde Menschen einander nahe zu bringen. Dabei möchte ich in meinem Alter doch vor allem tanzen, wenn ich ausgehe. Was ich aber bekam, war jede Menge Mensch. Die volle Dröhnung. Ich war in Geiselhaft genommen – von verzweifelten Alleinstehenden.

In meiner Jugend gab es ein ähnliches Konzept, genannt Kibu oder Kirchenbumms. Wer damals unverhofft das Licht des abgedunkelten und in 90er-Jahre-Sound getauchten Gemeinderaumes entzündete, konnte pubertierende Tänzer wie Kakerlaken auseinanderstieben sehen und kichernd in ihre Ecken flüchten. Nun also stand ich aber Jahre später in diesem Club, das Licht flackerte aufdringlich schummrig-rot, Konfetti flogen mir ins Glas und rote Herzballons zu meinen Füßen ließen mich taumeln. Die Erkenntnis nach drei Stunden: Ernst gemeinte Partnersuche ist nichts für Zimperliesen.

Während das Nachtleben exaltierter Großstädter mit wummernden Bässen hohldreht, wird das Land immer ruhiger. Und leerer. Und vor allem älter. Das analysierte gerade das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung. (Und zeigt das auf einer schönen interaktiven Karte.)

Das Durchschnittsalter der Deutschen steigt auf 47 Jahre. Soziologen, Biologen, Familienpolitiker und Journalisten reden und schreiben sich die Gehirnwindungen wund, finden viele und zunächst plausible Gründe für die mickrige Geburtenrate in Deutschland wie stressige Arbeitszeiten, unsichere Jobs, Entlassungen, Befristungen, das späte Empfängnisalter der Frauen. Man entwickelt Rettungsmechanismen wie die künstliche Befruchtung, PID, Eltern-, Kinder- und Betreuungsgeld. Das Tragische aber ist: All diese Stellschrauben, an denen gedreht wird, können ein Problem nicht lösen: Zum Kinderkriegen braucht es in der Regel zwei Menschen. Günstig sind ein Mann und eine Frau. Zum Kindergroßziehen braucht es dann noch viel mehr. Geschlecht egal.

Ganz alleine aber gestaltet sich das alles schwierig.

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