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(picture alliance) Verschwinden und Überdauern

J.D. Salinger - Vom Verschwinden und Verweilen

J.D. Salinger galt zu Lebzeiten als exzentrisch und machte sich rar. Sein Werk erscheint demgegenüber zeitlos und ist so präsent wie vor sechzig Jahren. Der Fänger im Roggen ist immer noch ein Weltbestseller. Nun liegt die komplette Neu-Übersetzung seiner Werke vor

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Er ist der Meister, das wollen wir hier gleich mal festhalten: Jerome D. Salinger, geboren am Neujahrstag des Jahres 1919 und gestorben 91 Jahre später in seiner Einsiedelei im gottvergessenen Gebirgsort Cornish in New Hampshire, ist der Meister des sich kurz fassenden Erzählens.

Natürlich machte ihn nicht die quantitativ messbare Leistung zum Guru der Short Story-Leser, auch die traumhaft sichere Beherrschung des rasanten Dialogs nicht; so etwas können andere auch. Nein, es war die eigentümliche spirituelle Sicht Salingers auf die ganz großen existentiellen Fragen, verbunden mit scharfem Witz und überraschenden Wendungen, die Leser wie Journalisten immer wieder ins entlegene Cornish pilgern ließ, um des Meisters ansichtig zu werden, womöglich sogar mit ihm zu sprechen – Versuche, die ihnen mit ein bisschen Glück die stumm-unmissverständliche Androhung eines Fausthiebs eintrugen.

Jerome D. Salinger wollte nicht gesehen und er wollte schon gar nicht angesprochen werden. Er wollte möglichst überhaupt keinen Kontakt zur Außenwelt. Nur eins wollte er unbedingt: sein Bild von der Welt und den Menschen entwickeln, wie sie einander auf die unterschiedlichste Weise in krisenhafte Zustände versetzen.

Von der Mitte der sechziger Jahre an mochte er dann aber auch die literarischen Ergebnisse seiner Gedanken- und Gefühlsarbeit mit niemandem mehr öffentlich teilen. Nachdem Salingers Erzählung «Hapworth 16, 1924» am 19. Juni 1965 im New Yorker erschienen war (und praktisch das gesamte Heft eingenommen hatte), blieb er der Autor eines nur vierbändigen gedruckten Werks: «Hapworth», ebenfalls als Buch-Publikation geplant, kam nie zwischen feste Deckel. Und doch genügten ein kurzer Roman und drei Bände mit Geschichten zunehmender Länge, um ihm einen Platz im Literatur-Olymp zu sichern. Bis heute zählt J. D. Salinger in den USA wie in Europa zu den meistgelesenen amerikanischen Autoren des 20. Jahrhunderts.

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In den frühen vierziger Jahren hatte der in New York geborene Sohn eines jüdischen Lebensmittelgroßhändlers, ein Schulversager und Uni-Drop out, nach erheblichen Anlaufschwierigkeiten begonnen, in zunehmend dichter Abfolge Erzählungen in amerikanischen Zeitschriften zu veröffentlichen – sie erzählten vom Leben Zwanzigjähriger in der Riesenstadt, von innerer Leere, Richtungslosigkeit.

Das höchste Ziel, eine Geschichte im New Yorker zu publizieren, blieb Salinger vorerst verwehrt. Doch war er immerhin gerade dabei, sich einen Namen als Nachwuchsautor zu machen, als er im Juni 1944 mit dem 12. Infanterie-Regiment zur Landung in der Normandie abkommandiert wurde.

In den Ardennen und in der Eifel nahm er danach an zwei der verlustreichsten Schlachten des Zweiten Weltkriegs teil – Ernest Hemingway, der den Kampf in der Eifel als Kriegsberichterstatter miterlebte (und in seinem jungen Kollegen «ein höllisches Talent» sah), machte diese

Erfahrung zum Kriegsgegner, Salinger hinterließ sie schwer traumatisiert. In der Erzählung «Ein idealer Tag für Bananenfische», mit der ihm 1948 endlich sein Debüt im New Yorker gelang, wie auch in der Story «Für Esmé – in Liebe und Elend» aus dem Jahr 1950 ist die Nachwirkung der inneren Kriegsverletzungen zentral: Seymour Glass, Held etlicher späterer Salinger-Geschichten, schießt sich während eines Urlaubs mit seiner Ehefrau eine Kugel in den Kopf, einen anderen jungen Soldaten sehen wir in einem Krankenhaus, wo er von seinen seelischen Verwundungen genesen soll.

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Der tief verstörte Autor selbst wendete sich in den frühen fünfziger Jahren dem Zen-Buddhismus zu, bald darauf dem Hinduismus. Beides hatte Konsequenzen für den Charakter der Salinger-Storys, ja, es gab ihnen überhaupt erst ihre unverwechselbare Statur. All ihre Protagonisten nämlich, ob Kinder oder Erwachsene, ob Schauspieler, Schriftsteller, Sekretärin oder Hausfrau, sind Suchende, denen erdverhaftete Erklärungen und Ratschläge in ihren Lebenskrisen nichts mehr sagen.

Der Sinn ihres Daseins liegt, wie sie wissen oder mindestens ahnen, außerhalb, im Spirituellen. Doch erzählte Salinger davon weder mit schwerblütigem Ernst, noch bot er Lösungen in der Sprache heiliger Verkündigung an – nicht zufällig entstammen die Hauptfiguren seiner späteren Erzählungen einem neunköpfigen Clan jüdisch-irischer Vaudeville-Künstler. Gebildet wird er von den Eltern Les und Bessie Glass und ihren sieben Kindern: dem intellektuellen Überflieger und aus seinem Vorkriegsleben gefallenen Englisch-Professor Seymour, dem Schriftsteller Buddy, der ältesten Tochter Boo Boo, einer Hausfrau und Mutter, den Zwillingen Walt und Waker (der als Soldat in Japan ums Leben kommt) und schließlich dem jüngsten Geschwisterpaar Zooey und Franny, die beide nach ihrem Studium Schauspieler werden.

Alle Jüngeren standen unter dem erzieherischen Einfluss von Seymour und Buddy, die sie von Kindesbeinen an mit christlichen, buddhistischen und hinduistischen Lehren, mit griechischer Philosophie wie japanischer Lyrik traktierten, und allesamt wirkten sie als Schüler in der Rundfunksendung «Kluges Kind» mit, wo sie sich einen bis in ihre Erwachsenenjahre anhaltenden Kult-Status als whizz kids erwarben. Alle aber erlernten sie von ihren Eltern auch das Tanzen und Jonglieren, kleine Slapstick-Nummern wie den Vortrag schmissiger Songs – Schnelligkeit und Eleganz, die (wohltrainierte) Leichtigkeit wie die Kapriole sind die professionelle Domäne der Glass-Familie.

Und nicht zuletzt auch diejenige ihres Autors: Tiefgründiges erzählt Salinger in unterhaltsamer Beiläufigkeit, schlagfertige Dialoge nehmen frappierende Wendungen, ohne Ironie kommt hier keine der erfundenen Personen davon. Die Ernsthaftigkeit ihrer Sinnsuche aber, die Frage nach ihrem Ort und ihrer Aufgabe im Leben, erleidet dadurch keine Einbuße, sie wird vielmehr intensiviert: Nur wenn sich die innere Bewegung gewissermaßen im Vaudeville-Stil präsentiert – mit innerem Abstand und Selbstreflexion –, gilt sie Salinger als ernsthaft; Grübeleien und die Selbstankettung an hehre Ideale sind für ihn unnütz.

«Werde, der du bist», die Botschaft des Dichters Pindar am Orakel von Delphi, gibt die Richtung der Suchbewegungen dieser Charaktere an. Sie führen mitten hinein in die Problematik der sich zunehmend individualisierenden, dabei zugleich von rigiden Normen beherrschten amerikanischen Kultur der frühen fünfziger Jahre. Als sich «Der Fänger im Roggen» – in deutscher Fassung erstmals 1954 erschienen – in der Übersetzung von Annemarie und Heinrich Böll Mitte der sechziger Jahre im deutschsprachigen Raum durchzusetzen begann, war auch hier eine gesellschaftliche Latenzphase eingetreten. Die Nachkriegsgesellschaft war dabei, sich wirtschaftlich wieder zu erholen, doch was sollte, mit welcher Zielrichtung, mit den materiellen Werten anzufangen sein – gesellschaftlich, individuell?

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Wenn Wohlstand das bedrängende Gefühl innerer Leere nicht länger zu besänftigen vermochte, wo war dann Rettung zu suchen?Als ehrgeiziger junger Autor hatte der Soldat Jerome D. Salinger New York im Jahr 1944 verlassen. Als er zurückkam, hatte das jüdische rich kid aus der Fifth Avenue sein Gefühl, existentiell behütet zu sein, endgültig eingebüßt: «Wie alt du auch wirst, den Geruch brennenden Fleisches in deiner Nase wirst du nie wieder loswerden.» Die grundlegende Verstörung des Blicks auf die ihn umgebende Wirklichkeit aber war zugleich die Initialzündung für den Roman «Der Fänger im Roggen».

Schon 1946 hatte Salinger Hemingway geschrieben, dass er ein Theaterstück mit einer Hauptfigur namens Holden Caulfield plane (im selben Jahr war Holden zum ersten Mal in der Erzählung «Slight Rebellion off Madison» aufgetaucht). Es wurde aber kein Stück daraus, sondern ein Roman über einen 16-Jährigen aus gutem Haus, der nach erneutem Schulverweis kurz vor Weihnachten durch New York irrt, trinkt, sich eine Prostituierte aufs Hotelzimmer bestellt. Er trifft Freunde und sucht schließlich seine kleine Schwester Phoebe auf, um sich von ihr zu verabschieden – Holden Caulfield will mit seinem wohlversorgten, aber hohlen Dasein Schluss machen; er weiß nur noch nicht wie. Diese Geschichte über das letzte Stadium einer Lebens-Verzweiflung wird aus dem Rückblick erzählt.

Sie steckt voller Wut und Flüche, voll komisch-aggressiver Übertreibungen, und ist zugleich randvoll mit Angst und Schrecken vor dem way of life der amerikanischen upper middle class, ihrer Abkömmlinge und Untergebenen: «Der Fänger im Roggen» ist Salingers Abrechnung mit einem Lebensstil, dessen materielle Voraussetzungen üppig sind, in dessen Innerem sich aber eine alles überlagernde Leere ausgebreitet hat. Kein Wunder, dass dieser Roman zur Bibel Pubertierender wurde (und den Hass religiös-fundamentalistischer Leser auf sich zog – bis heute unterliegt er in einigen Regionen der USA einem Bann, der ihn wegen unflätiger Sprache und gottloser Anklagen von Schulen, Colleges und Bibliotheken fernhält).

Doch auch unter zahllosen Erwachsenen, die das Gefühl der Sinnleere teilten, fand er vehemente Fürsprecher. So katapultierte das Buch seinen Autor im Jahr 1951 in die Bestsellerlisten und im Folgenden unvermeidlich in den Rang weltliterarischer Größe. Das Problem, dem Salinger sich mit der Verve eines Heranwachsenden und dem stilistischen Vermögen und Rhythmusgefühl des erfahrenen Schriftstellers gewidmet hatte, war universal geworden. «Der Fänger im Roggen» war jedoch nicht nur Salingers erstes Buch, er sollte auch sein einziger Roman bleiben.

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Alle weiteren Versuche mit dem epischen Format schlugen fehl – es wurden, wie in den Bänden «Franny und Zooey» (1961) oder «Hebt an den Dachbalken, Zimmerleute und Seymour, eine Einführung» (1963), immer wieder Erzählungen daraus. Und spätestens mit «Hapworth 16, 1924» dann auch unverkennbar abgedrehte: Der siebenjährige Seymour Glass teilt hier seinen Eltern aus einem Feriencamp brieflich seine erleuchteten Welterkenntnisse mit (nebst ellenlanger zugehöriger Leseliste). Seit einem Jahrzehnt war Salinger nun der vergötterte Exklusiv-Autor des New Yorker gewesen.

Doch während sowohl die Erstveröffentlichung der «Franny»-Story im Jahr 1955 als auch diejenige von «Zooey» zwei Jahre darauf dem Magazin den Ausverkauf der gesamten Auflage beschert hatte, traf «Hapworth 16, 1924» im Jahr 1965 nur noch auf gedämpfte bis ablehnende Reaktionen. Von da an herrschte Schweigen seitens des Meisters, 45 Jahre lang, bis zu seinem Tod am 27. Januar 2010.

Was nicht heißt, dass er nichts mehr geschrieben hätte. Die wenigen Menschen, die er in seine Nähe ließ, bezeugten, dass er jeden Tag diszipliniert mehrere Stunden lang an seinem Werk weiterarbeitete (darunter bis 1972 an mindestens zwei Romanen, wie eine zeitweilige Lebensgefährtin angab, ein Nachbar wollte 2010 sogar von 15 Romanen wissen; was aus alledem nach seinem Tod wurde, ist unbekannt). Veröffentlichen aber wollte Salinger nichts mehr, und auch das hatte seine eigene Logik.

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Bereits im August 1961 hatte das Time-Magazin einen Satz zitiert, mit dem der Autor auf sein Verschwinden vorauswies: «Meiner einigermaßen subversiven Meinung nach ist der Sinn eines Schriftstellers für Anonymität-Obskurität der zweitwichtigste Besitz, der ihm während seiner Arbeitsjahre gegeben ist.» Schon immer auch hatte Salinger Spaß an phantasievollen biografischen Angaben gehabt, wenn er etwa behauptete, in seiner Jugend in Polen zum Schweineschlachten gezwungen worden zu sein (während er 1937 auf Wunsch seines Vaters ein Jahr überwiegend in Wien verbracht und dort vor allem seine Deutschkenntnisse vervollkommnet hatte), oder wenn er, der mit Frau und Kindern in Cornish lebte, mitteilte: «Ich lebe in Westport mit meinem Hund.

Nach «Hapworth 16, 1924» jedoch endete auch das Spiel mit biografischen Fiktionen. Abbildungen auf den Covers von Salinger-Büchern waren künftig untersagt, kein Foto von ihm durfte auf dem Umschlag erscheinen. Seine Präsenz in der Öffentlichkeit beschränkte sich am Ende auf die Presseberichterstattung über Prozesse, die er führte, um Privatleben und Werk vor dem Zugriff von Biografen, Filmemachern oder – im Jahr 2009 – vor einem schwedischen Autor zu schützen, der den nunmehr 76-jährigen Protagonisten des «Fängers im Roggen»  als «Mr. C.» ins 21. Jahrhundert versetzt hatte und aus einem Altersheim ausbrechen ließ.

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Und doch war Salinger, als er im Jahr 2010 starb, alles andere als ein Unbekannter, auch seine Werke waren unverändert gegenwärtig. Über deren Verkaufszahlen würden die meisten hiesigen Autoren in Ekstase geraten: Allein «Der Fänger im Roggen» verkauft sich in den USA noch heute pro Jahr etwa 250.000mal.

Gerade hat Salingers deutscher Verlag die wunderbare Neu-Übersetzung seiner Werke durch Eike Schönfeld abgeschlossen, der 2003 in neuer Version erschienene «Fänger im Roggen» hat bereits die 5. Auflage erreicht. Von der Taschenbuch-Ausgabe verkauften sich im letzten Jahr 20.000 Stück, im Jahr davor 60.000 – insgesamt haben die bislang im Taschenbuch erschienenen Neuübersetzungen 250.000 Käufer gefunden, alle verfügbaren Taschenbuch-Ausgaben zusammen kommen auf 1,4 Millionen.

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Offenbar sind also die Fragen, die den Alten vom Berg umtrieben, auch ein halbes Jahrhundert nach Jerome David Salingers Expeditionen in die Lebens-, Glaubens- und Gedankenwelt der Familie Glass noch nicht erledigt: Wozu sind wir hier, was macht unser Leben aus? Was haben Philosophen und Religionsstifter dazu zu sagen? Welche Funktion hat die Kunst? Wie geht man mit Wissen um, welches Wissen ist hilfreich? Und wenn es einen Trost gibt, wo wäre er zu finden? Auch «Die Dicke Frau», für die die Glass-Kinder all ihre Anstrengungen in Kunst und Leben unternehmen – eine durchschnittliche Person, der es nicht gut geht, und die ein Recht darauf hat, ernsthaft und intelligent mit Antworten selbst auf scheinbar abwegige Fragen unterhalten zu werden – existiert augenscheinlich immer noch. Eigentlich kein schlechtes Zeichen: Der Autor hat seine Mission erfüllt und sich selbst zum Verschwinden gebracht. Aber seine Bücher leben.

 

Jerome D. Salinger
Der Fänger im Roggen. Roman, Rowohlt TB, Reinbek 2004. 272 S., 8,99 €

Franny und Zooey. Rowohlt TB, Reinbek 2008. 240 S., 8,95 €

Neun Erzählungen. KiWi, Köln 2012. 224 S., 15 €

Hebt an den Dachbalken, Zimmerleute und Seymour, eine Einführung.
KiWi, Köln 2012. 201 S., 15 €

Alle Bände aus dem Amerikanischen neu übersetzt von Eike Schönfeldt

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