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(Picture Alliance) In einer Welt futuristischer Jahrmarktsattraktionen verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Phantasie

Literatur - Gesellschaft der Risiken und Nebenwirkungen

Thomas von Steinaeckers Zeitroman unserer Welt, zeigt eine vom Sicherheitsdenken unterhöhlte Angstgesellschaft. „Das Jahr, in dem ich aufhörte, mir Sorgen zu machen, und anfing zu träumen“ ist ein gespenstisch surreales Porträt unserer Gegenwart, welcher unsere Sehnsüchte in die Irre führt

 

Das Stakkato von Siebenzentimeter-Absätzen zieht uns in diese Geschichte, gefolgt vom Autostabilisierungsprogramm, das jede Hinterfragung prophylaktisch unterminiert: „The higher the heel, the better I feel“, oder auch: „Nicht klagen, tragen.“ Ebenso resolut werden hier Pillen geschluckt: der Eingriff ins Bewusstsein als Investition, wobei es für die Folgeschäden weitere Pillen gibt. Willkommen in der Gesellschaft der Risiken und Nebenwirkungen.

Schadensregulierungen wachsen sich dabei zu Kettenreaktionen aus, nicht selten kontraproduktiv, wie die zur Allegorie erhobene neue Verspiegelung des Münchner U-Bahn-Labyrinths zeigt: Sie sollte „dem Gefühl der Klaustrophobie vorbeugen, in Wirklichkeit jedoch trug sie nur zur allgemeinen Desorientierung bei“.

Mit weit aufgerissenen Augen, wie man es von Marlene Streeruwitz oder Kathrin Röggla kennt, stürzt sich der Autor auf unsere bis in die Kunst hinein Routine-versessene Gegenwart, die ihre Sicherheitssucht mit wachsender Verunsicherung bezahlt.

Im Laufe des Romans über die karrieristische, aber vom Leben links liegen gelassene Versicherungsvermittlerin Renate Meißner scheint freilich immer fraglicher, ob sich besagte Wirklichkeit überhaupt klar abgrenzen lässt. Thomas von Steinaecker, der den implodierenden Realismus perfektioniert hat, macht aus diesem Einbruch des Imaginären in das vordergründig durch die Finanzkrise erschütterte Gefüge des darwinistischen Kapitalismus ein Scheitern-als-Chance-Exemplum.

Für die zweiundvierzigjährige Heldin, die nach einer Affäre mit ihrem Chef in eine Abteilung der Cavere-Versicherung wegbefördert wurde, deren Verkleinerung bereits beschlossen ist, empfindet man Mitleid und Abscheu zugleich. In einem Dauermonolog bannt sie, auf Sieg gepolt, jede Unsicherheit mit Statistiken und Seminarwissen.

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Obwohl sie die Regeln des Systems internalisiert hat, brechen sich jedoch immer wieder unterschwellige Aggressionen („Arschwichser, dachte ich“) und unbewältigte Traumata Bahn: der Tod der Eltern, das Verschwinden der Großmutter, das Abgeschobenwerden durch den Geliebten. Angst ist Renates Antrieb, die doch von der Angst der anderen lebt.

Gleichwohl zieht sie einen Großauftrag an Land: Eine betagte Unternehmerin sucht einen Versicherer für ihre futuristischen Vergnügungsparks, deren Zentrale sich in Russland befindet. Und eben hier, im Wasserkind’schen Simulationskosmos, dessen Evokation den großen Jahrmarktsphantasien der klassischen Moderne nicht nachsteht, verliert die Vermittlerin allmählich die Kontrolle – kalter Sicherheitsentzug – und muss überrascht „eingestehen, dass mich das Draußen hier drinnen mit jeder Stunde weniger interessierte“.

Zunächst siegt noch die Egozentrik: „Plötzlich war es mir unmöglich, nicht alles, was geschah, in Bezug zu mir selbst zu setzen.“ Die Unternehmerin, so die fixe Idee, könnte doch mit der verschwundenen Großmutter identisch sein, ein Heilsplan hinter allem Geschehen stecken.

Das bald darauf jedoch alle Kerker des Ich aufsprengende Erkenntnis-und-Emotions-Erdbeben ist vielleicht etwas dick aufgetragen, möglicherweise ist es auch nur ein Traum im Traum und alles andere als ein Ausweg, in jedem Fall aber handelt es sich um das große Finale eines erfreulich heutigen und stilistisch wagemutigen Romans.

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