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(picture alliance) Häppchenweise wird jeder Tag zum Zwölf-Gänge-Menu

Volksgut Snackkultur - Häppchenweise durch den Tag

Die Gulaschkanone hat schon vor einiger Zeit ihr Pulver verschossen. Heute gelten kleinkalibrige Speisen als das Gebot der Stunde. Doch wer die Welt nur häppchenweise betrachtet, macht die Rechnung ohne den Wirt

Feine Küche sättigt nicht. Es gehört zum Repertoire jedes Possenreißers, sich über die winzigen Portionen der Hochgastronomie lustig zu machen, die Loriot einmal „übersichtlich“ genannt hat. Dass der Gag nicht mehr so recht zünden mag, liegt nicht nur an seinem Alter, sondern daran, dass sich unsere Erwartungen ans Essen verändert haben. Das Lamento über die kunstvollen Kleinigkeiten auf riesigen Tellern ist nicht im Verstummen begriffen, weil es plötzlich weniger Banausen gäbe. Vielmehr ist heute kaum einer noch die deftigen Portionen gewohnt, die ein Gegenbild zur Haute Cuisine malen könnten.

Die Gulaschkanone hat ihr Paprikapulver verschossen und an ihre Stelle sind kleinkalibrige Speisen getreten. Gegessen wird nicht mehr, was auf den Tisch kommt, sondern mehr und mehr, was man im Stehen und Vorübergehen greifen kann: Sandwiches, Sushi, Wraps und Nudelsuppen füllen eine Zeit, die früher der Zigarettenpause diente. Und sie verderben den Appetit auf das Hauptgericht. Was Ernährungsphysiologen und Diätberater schon lange fordern, scheint nun auch von der breiten Masse angenommen zu sein: die Schonung des Magens durch kontinuierliche Befüllung. So wird jeder Tag zum Zwölf-Gänge-Menü. Wer sich daran gewöhnt hat, beschwert sich nicht, wenn im Restaurant eine Ente zur Praline verdichtet serviert wird oder ein Eintopf in der Espressotasse daherkommt.

Natürlich lässt es sich begrüßen, dass die Snackkultur mit ihrer internationalen Vielfalt Volksgut geworden ist. An die Stelle einer den Tag dominierenden Hauptmahlzeit ist eine abwechslungsreiche Mischkost mit unterhaltenden Elementen getreten, die zu jedem Zeitpunkt eine passende Antwort auf die aktuellen Nahrungsbedürfnisse bereithält. Eine unbekümmerte Innovationsfreude verwandelt auch Traditionsspeisen in zeitgemäße Snacks. Ob Bulette, Focaccia oder Dim Sum – jeder Standard wird tresenfähig gemacht für das große Buffet des Alltags.

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Aber der Aufenthalt in diesem Schlaraffenland kann weitreichende Folgen haben. Und die liegen nicht einmal in der mangelnden Bekömmlichkeit, die dem Junkfood immer wieder nachgesagt wird. Selbst die Klage über die Zersetzung der nationalen Identität durch exotische Naschereien wird nur noch von hoffnungslosen Reaktionären in Anschlag gebracht. Es gehört zu den Eigenheiten des Appetits, gern einmal in die Ferne zu schweifen. Dass unsere Sehnsüchte inzwischen durch Welthandel und Globalisierung befriedigt werden können, tröstet allerdings kaum über den Verlust des Mittagessens hinweg.

Denn die Autorität einer Hauptmahlzeit untergräbt man nicht ohne weitreichende Folgen. Ihr Konzept ist nicht nur der massive Versuch einer Sättigung, sondern vor allem die Ausbreitung eines Themas. Ein Hauptgericht zu verspeisen, heißt auch, es mit allen Stärken und Schwächen zu akzeptieren und zu durchleben. In der Welt des Snacks pickt man sich in kleinen Portionen die Rosinen aus dem Angebot. Wer sich daran erst einmal gewöhnt hat, verliert vielleicht auch in anderen Belangen den Blick für das Große und Ganze. Bei politischen Entscheidungen zum Beispiel geht es oft um umfangreiche Gesetzespakete mit Vor- und Nachteilen, die gegeneinander abgewogen, aber letztlich im Ganzen geschluckt werden müssen. Wer die Eurokrise nur häppchenweise betrachtet – oder ein hohes Amt nur schnäppchenweise –, macht die Rechnung ohne den Wirt.

Die politische Diskussion scheint zudem immer mehr unter der Entwöhnung der Bürger vom streitbaren Diskurs zu leiden, der an der Tafelrunde entsteht und durch die gemeinsame Mahlzeit eine existenzielle Verbindlichkeit erhält. Am Imbisstresen splittert sich das Gespräch auf. Kommunikation findet höchstens noch mit dem Personal statt, dessen viele Fragen zum System gehören. Und so schweifen die Gedanken während des Essens heute allenfalls noch ins soziale Netzwerk auf dem Mobilgerät ab.

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