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(Harald Hoffmann/ DG) Daniel Hope, Violonist von Weltrang

Zeitgenössische Musik - Vivaldi rekomponiert

Vivaldis „Die vier Jahreszeiten“ umkomponieren? Warum sollte man das tun? Ganz einfach: Auch zeitgenössische Musik kann wahre Hörwunder vollbringen

Die Geschichte ist inzwischen Legende: Simon Rattle, damals Chefdirigent des City of Birmingham Symphony Orchestra, dirigierte vor vielen Jahren die Uraufführung des Werkes eines jungen britischen Komponisten. Am Ende vergaß er, den im Publikum anwesenden Komponisten, wie es die Tradition gebot, aufzurufen, damit man ihm applaudieren konnte. Als er beschämt seinen Fehler bemerkte, ließ er ihn einfach im zweiten Teil des Abends aufstehen, nach einer Sinfonie von Gustav Mahler. Unter begeistertem Beifall rief eine ältere Dame aus der ersten Reihe: „Ich wusste nicht, dass Mahler in Birmingham lebt!“

Sind wir einmal ehrlich: Komponisten haben es heute nicht einfach. Das Publikum und die auf Umsatz bedachten Veranstalter zucken zusammen, sobald das Wort „zeitgenössisch“ fällt. Sein „Kind“ kann ein Komponist nur nach einem langen, harten Kampf auf die Bühne bringen. Dabei gibt es gerade in der zeitgenössischen Musik eine unglaubliche Vielfalt an musikalischen Persönlichkeiten, die etwas zu sagen haben. Trotz des Umstands, dass niemand zuhören zu wollen scheint.

Die neue Musik klingt anders als die von Beethoven, Schubert oder Brahms. Sie alle haben tonal komponiert, ihre Musik versteht man auch ohne eine musikalische Vorbildung. Mit zeitgenössischer Musik funktioniert das oft nicht. Sie kann anstrengend sein und neigt dazu, unser Hörempfinden mit unaufgelösten Dissonanzen zu irritieren. Pierre Boulez, der französische Komponist und Dirigent, gibt uns Interpreten die Schuld, wenn ein modernes Werk keinen Erfolg hat. Bei allem Respekt für den genialen Maestro kann ich ihm in dieser Hinsicht nur teilweise recht geben.

Ich glaube, Musiker sollten moderne Stücke kurz erläutern, bevor sie sie spielen. Einige wenige Sätze würden genügen. Das ist wie beim Audioguide, der einen Museumsbesucher ein zeitgenössisches Bild mit ganz anderen Augen sehen lässt. Stattdessen werden zeitgenössische Stücke leider immer noch ohne Erklärung in die sogenannten „Sandwichprogramme“ eingebaut, zwischen zwei populären Werken, sodass niemand die Chance hat, ihnen zu entrinnen. Damit wird nicht nur eine Riesenchance vertan, sondern auch das Publikum unterschätzt.

In meiner Laufbahn habe ich mehr als 30 Werke in Auftrag gegeben. Manchmal werden neue Kompositionen nur ein einziges Mal aufgeführt und verschwinden dann für immer in der Versenkung. Nur wenige Kompositionen durfte ich mehrmals spielen. Eines Tages kontaktierte mich Max Richter. Der britische, in Berlin lebende Komponist hatte einen ungewöhnlichen Vorschlag: Er wollte ein Werk „rekomponieren“. Der Begriff war mir neu, und ich war dementsprechend skeptisch. Zumal er nicht irgendein Werk vor Augen hatte, sondern Vivaldis „Die vier Jahreszeiten“. Was sollte denn mit dem Original nicht in Ordnung sein? Richter grinste: „Die Jahreszeiten sind perfekt – ich möchte ihnen nur einen anderen Bilderrahmen verpassen.“ Mein Interesse war geweckt. Wäre das im Sinne Vivaldis gewesen? Wir wissen, dass der „Rote Priester“ auch selbst regelmäßig in seine Werke eingriff und sie von Aufführung zu Aufführung teilweise veränderte. Vivaldis atemberaubende Originalität und Brillanz haben mich immer fasziniert – so wie sie schon Bach beeindruckt haben, der sich die Violinkonzerte seines italienischen Kollegen besorgte und diese für das Cembalo umschrieb. Vielleicht ist Bach ja kein so schlechtes Vorbild, dachte ich.

Als das Stück fertig war, traute ich meinen Ohren nicht. Richters subtiles „Vivaldi Recomposed“ hat sich den „Vier Jahreszeiten“ mit den wachen Ohren des 21. Jahrhunderts genähert. Ich hatte mich stets davor gedrückt, Vivaldis Original aufzunehmen, dafür gibt es einfach zu viele Einspielungen. Richters Neuversion forderte mein Gehör auf eine ganz neue Weise heraus.

Auch zeitgenössische Musik kann also wahre Hörwunder vollbringen. Als ich etwa kürzlich in Köln ein Werk von Alfred Schnittke aufführte – einem russischen Komponisten, dessen Musik ich besonders schätze –, kam nach dem Konzert eine junge Frau zu mir an den CD-Tisch, offensichtlich den Tränen nahe: „Diese Komposition von Schnittke war das Unglaublichste, was ich je gehört habe“, sagte sie. „Nur fürchte ich, dass ich mich sofort von meinem Mann scheiden lassen muss.“ „Aber warum denn das?“, fragte ich entgeistert. „Er hasst Schnittkes Musik, und wir haben uns derart darüber gestritten, dass es jetzt endgültig aus ist!“ Schnittke hat mir einmal erzählt, es sei sein größter Wunsch, das Publikum dazu zu bringen, bei seiner Musik nicht einzuschlafen. An Scheidung hat er dabei bestimmt nie gedacht!

Daniel Hope ist Violinist von Weltrang. Sein Memoirenband „Familienstücke“ war ein Bestseller. Zuletzt erschienen sein Buch „Toi, toi, toi! – Pannen und Katastrophen in der Musik“ (Rowohlt) und die CD „The Romantic Violinist“. Er lebt in Wien

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