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(picture alliance) Michelangelo Buonarrotis David in Florenz

Michelangelo - Verloren für diese Welt

Der junge französische Star-Autor Mathias Énard zeichnet das Porträt des Künstlers und zugleich das zauberhafte Bild einer ganzen Epoche: faszinierend und rätselhaft, in leuchtenden Farben

Er war kein schöner Mann. Es heißt, er habe sein eigenes Gesicht verabscheut. Er soll sich nicht gewaschen und meistens in voller Montur geschlafen haben. Er war zudem schweigsam, notorisch schlecht gelaunt, hin und wieder cholerisch und krankhaft geizig. Michelangelo Buonarroti war, aus dem Abstand eines halben Jahrtausends betrachtet, verloren für diese Welt.

Verloren muss er sich vor allem in Konstantinopel gefühlt haben, wo er am Donnerstag, dem 13. Mai 1506, von Bord eines Schiffes geht. Zwei Wochen hat die Überfahrt von Ancona gedauert. Er war aus Rom geflüchtet, weil ihn der Papst gedemütigt und ohne Lohn weggeschickt hatte. In Konstantinopel soll er eine Brücke bauen. Der Sultan hat einen großen Künstler dafür eingekauft, aber an der Reling steht jetzt ein sich vor Angst und Übelkeit krümmender Mensch.

Mathias Énard hat die Szene so ersonnen. Sie macht den Auftakt seines kurzen Romans über eine ebenso kurze Episode im Leben Michelangelo Buonarrotis: «Erzähl ihnen von Schlachten, Königen und Elefanten» ist ein ungewöhnliches Buch, ungewöhnlich kurz, ungewöhnlich kraftvoll, ungewöhnlich elegant.

«Ich habe einen Elefanten gezeichnet»

Man stelle sich vor: Michelangelo kommt in Konstantinopel an. Vom Meer aus. Über der Stadt thront die Hagia Sophia. Er spricht die Sprache nicht. Er kennt die Kultur nicht. Er ist noch schweigsamer als sonst, noch verschlossener, wie gefangen in seinem Körper. Aber er entdeckt eine Welt, die sinnlicher, betörender ist, als alles, was er bislang gesehen hat.

Er ist zudem ein Ehrengast von Sultan Bayezid II., dem Weisen und Gerechten, der schöne Frauen ebenso mag wie junge Männer und in dessen Reich Moslems, Juden und Christen friedlich nebeneinander leben. Die Brücke, die Michelangelo bauen soll, ist keine gewöhnliche. Er soll sie über das Goldene Horn schlagen, vom Orient zum Okzident, zwischen Islam und Christentum. Eher ein Zeichen soll er setzen, als nur ein Bauwerk schaffen. Michelangelo lockt das. Ihn lockt das Geld, aber vor allem auch der Ruhm. Er hat sich weggestohlen aus Italien, und niemals würde der Papst, erführe er von seiner Untreue, diesen Schritt ungestraft lassen. Das macht ihm Angst. Aber größer als die Angst ist die Verlockung, dass er es ist, dem gelingen könnte, woran Leonardo da Vinci gescheitert ist.

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Noch aber gelingt es ihm nicht, sich auf das Werk zu konzentrieren. Ihm fällt nichts ein. würde man das heute nennen, die Angst vor dem leeren Blatt Papier. «Habt Ihr an der Brücke gearbeitet», fragt ihn vorsichtig der Dragoman nach einer durchwachten Nacht. Aber der Meister antwortet, er habe sich mit einer weitaus kniffligeren Aufgabe befasst, mit einer echten Herausforderung: «Ich habe einen Elefanten gezeichnet.»

Geschichten vom Begehren

Durch die fremde Welt des Orients führt ihn der Dichter Mesihi von Pristina, ein Gelehrter, ein großer Poet, Günstling des Großwesirs. Ein Liebender vor allem. Aber Michelangelo sieht sie nicht, die begehrenden Blicke des schönen Jünglings. Er spürt nicht mal die Berührungen jener schönen Andalusierin, die sich nachts zu ihm legt und der er den Rücken zuwendet, obwohl sie gern auf «seine Seite der Welt» wechseln würde. In Gedanken erzählt sie ihm von Schlachten, Königen und Elefanten, von Liebe und dergleichen, von ihrem Versprechen auf Sättigung und Vergessen. Und es sind ihre seltsam verstörenden Monologe, die sich durch das Buch ziehen wie ein roter Faden des Begehrens, den der Künstler partout nicht aufzunehmen vermag.

War Michelangelo wirklich in Konstantinopel? Historisch verbürgt ist diese Reise nicht. Fest steht nur, dass der Sultan des Osmanischen Reiches Michelangelo abwerben wollte. Und sicher ist auch, dass Leonardo da Vinci an der Aufgabe des Brückenbaus vor ihm gescheitert war. Aber all das ist in Wahrheit zweitrangig. Énard ist auf der Seite des Gedichteten, das sein Recht wie das Geschehene behauptet. Die Wahrheit siedelt sich in diesem Fall im Zwischenreich der Phantasie an, für den Zeitraum einer Lektüre.

von Schlachten, Königen und Elefanten

Elefanten und Affen, Neid und Intrigen – und die Liebe

Es geht in diesem Buch um die Macht der Phantasie, um die Überzeugungskraft der Metapher, die aus dem Zwischenreich geboren wird, wo Begriffe und Bilder ineinandergleiten. Es geht um das Erzählen als Versprechen. Schon der Titel lässt das ahnen. «Erzähl ihnen von Schlachten, Königen und Elefanten» ist ein Zitat von Rudyard Kipling, das aus dem Vorwort der Novellensammlung «Dunkles Indien» stammt. Der weise Inder Gobind ist es, den Kipling als Ratgeber auftreten lässt: «Aber», so fügt der alte Mann am Ende noch hinzu, «vergiss auch nicht, ihnen von Liebe und dergleichen zu erzählen.»

Énard hat diese Sätze seinem Roman als Motto vorangestellt und sich an sein Programm gehalten. Rätselhaft steht es da, dieses Motto, wie ein musikalisches Vorzeichen. Anfangs versteht man es nicht ganz. Man ahnt nur die Farbe der Musik, die folgen wird, die Tonlage dieser Erzählung, die von Kriegern und Königen bevölkert ist, von Elefanten und Affen, von stinkenden Künstlern, angereichert von Neid und Intrigen. Aber auch von Liebe und dergleichen. Vergangenes Jahr, als Énards Roman im französischen Original erschien, wurde er über Wochen als möglicher Kandidat für den Prix Goncourt gehandelt, den wichtigsten und renommiertesten der französischen Literaturpreise. Am Ende musste er sich mit dem «Prix Goncourt des Lycéens»zufriedengeben, einem Schülerpreis also, der aber in Wahrheit viel mehr wiegt als die in den Fluren ausgedealten Entscheidungen des Literaturbetriebs. Ein Preis von jungen Lesern für einen nicht mehr ganz so jungen Schriftsteller. 39 Jahre ist Énard jetzt alt, er unterrichtet Arabisch an der Universität von Barcelona und hat inzwischen sechs Romane vorgelegt, von denen keiner dem anderen gleicht.

Alles nur erfunden?

«Erzähl ihnen von Schlachten, Königen und Elefanten» war «Zone» vorangegangenen. Ein monumentales Epos, 500 Seiten stark, in dem Énard in einem einzigen Satz, ohne Luft zu holen, ohne Punkt und Halt, von Mord und Totschlag am Mittelmeer erzählt. Verglichen damit wirkt sein jüngst übersetztes Buch auf den ersten Blick wie eine Fingerübung. Wie eine schnelle Skizze hat der Autor sie mit sicherer Feder aufs Papier geworfen. Sie hat verlaufene Konturen, verwaschene Ecken und wirkt dennoch ausdrucksstärker und auf ihre Art genauer, als jedes großes Gemälde es sein könnte. Énard ist mit diesem Buch tatsächlich etwas ganz Außerordentliches gelungen:

Er hat das Porträt eines Künstlers und zugleich das Bild einer Epoche gemalt, beide faszinierend und rätselhaft, strahlend und dunkel zugleich. Wenn es die Brücke Michelangelos am Bosporus heute nicht mehr zu bewundern gibt, dann muss es nicht daran liegen, dass Énard diese Geschichte vollständig erfunden hat. In den Anmerkungen notiert er: «Das Erdbeben, das 1509 Istanbul erschütterte, ist unglücklicherweise ebenso wenig erfunden wie die Schäden, die es anrichtete. Über alles andere weiß man nichts.»Von diesem Rest, über den man nichts weiß, lebt diese kurze Geschichte, die – so sieht es der weise Inder Gobind – wahr nur ist für den Zeitraum, da jemand sie erzählt.

Mathias Enard wurde 1972 im westfranzösischen Niort geboren. Nach dem Studium des Arabischen und Persischen lebte er längere Zeit im Mittleren Osten; seit 2010 lehrt er Arabisch in Barcelona. In Deutschland wurde er mit seinem Roman «Zone» (2010) bekannt

Dieser Artikel ist auch in der Ausgabe Oktober/November 2011 des Magazins "Literaturen" erschienen

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