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(picture alliance) Vom Sonntagsbraten zur vegetarische Lasagne – die Identität des deutschen Bürgertums hat sich stark gewandelt

Küchenkabinett - Vegetarische Lasagne und das Unheil der Volksparteien

Der Speiseplan als Objekt der Sozialforschung: Was bedeutet es eigentlich für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft, wenn gutbürgerliche Küche nicht mehr als Lebensart gilt, sondern als gastronomisches Kuriositätenkabinett?

Wer weiss noch, was hunger ist? Der Berliner Spitzenkoch Tim Raue behauptet schon im Titel seiner Autobiografie, in Kindertagen Opfer einer armutsbedingten Unterernährung geworden zu sein – als handelte es sich bei seinem Heimatbezirk Kreuzberg um eine Favela, die von den Sozialleistungen des deutschen Gemeinwesens links liegen gelassen wurde. Tatsächlich haben Wachstum, sozialer Ausgleich und vor allem die industrielle Produktion von Lebensmitteln die verfügbare Kalorienmenge als Maßstab für Arm und Reich entwertet.

Trotzdem lässt sich auch weiterhin die soziale Zugehörigkeit an Speisen ablesen – es geht aber eher um die Qualität der Nahrungsmittel und ihre Zubereitung. Ärmliche Verhältnisse sind nicht mehr durch den Mangel an Fleisch charakterisiert – ganz im Gegenteil: Würste, Fleischsalat und Grillhähnchen bilden die Nahrungsgrundlage der Unterschicht. Wer sich auf der sozialen Skala nach oben geboxt hat, ist skrupulöser, wenn es um den massenhaften Tod von Tieren für das eigene Wohlbefinden geht; in Familien höheren Standes finden sich oft vegane Mitglieder.

Die Differenzierung der Bevölkerungsschichten anhand von Speiseplänen und Rezepten ist ein wenig beackertes Feld der Sozialforschung. Dabei lässt sich vieles aus Koch- und Haushaltsbüchern ablesen. Die gutbürgerliche Küche zum Beispiel hat seit dem Biedermeier eine Lebensart definiert, die zum Leitbild des gesamten Gemeinwesens wurde. Man denkt an Rouladen mit Salzkartoffeln, an Gulasch, Königsberger Klopse und Mischgemüse oder Schweinebraten, Kassler und Sauerkraut: Traditionsgerichte, die mit viel Bratensoße und Kartoffeln Sättigung versprechen. Als Würzmittel reichen meist Pfeffer und Salz; höchstens noch Lorbeer, Muskat und manchmal Paprika runden die Speisen ab. Diese aufs Fleisch konzentrierte Küche stellte früher den Alltag der Mittelschicht dar.

Der Sonntagsbraten war das Kennzeichen eines Standes, mit dem sich ganze Familien ihrer gesellschaftlichen Stellung versicherten. Solange man sich diesen Höhepunkt der kulinarischen Woche noch leisten konnte, schienen die Dinge im Lot. Dabei spiegelte die Ausgestaltung des Menüs die materiellen Verhältnisse und den Bildungsstand wider. In der oberen Mittelschicht ging etwa noch eine Rindsbrühe mit Markklößchen voraus und ein Dessert beschloss das Mittagsmahl. Weiter unten auf der gesellschaftlichen Leiter blieb es zum Beispiel bei einem Hackbraten ohne Vorspeise und Nachtisch. Ritual und Rezeptur dieser deutschesten aller Küchen waren aber überall gleich und stifteten einen Zusammenhalt, der über Kriege und Krisen hinweg Bestand hatte – als Ideal eines stetig wachsenden Bürgertums.

Doch jetzt scheint es fast zum Schreckbild einer Generation geworden zu sein, die ihre Inspirationen aus der ganzen Welt bezieht. Für jemanden, der mit Pizza, Sushi und Burger groß geworden ist, stellt das Angebot eines Ratskellers, von dem man die Traditionsküche seit jeher in Vollendung erwartet, ein nachgerade abstoßendes Kuriositätenkabinett dar. Deutschlands Mensen können mit Hühnerfrikassee und Krautwickeln allenfalls noch das Personal beköstigen – die Studenten bedienen sich aus einem Mix asiatischer und mediterraner Spezialitäten, zunehmend auch in vegetarischer Ausprägung.

Vor unseren Gaumen entsteht eine Patchworkküche, die das als eintönig empfundene Gutbürgerliche mit einer Mobilisierung aller Geschmackssinne beantwortet. Dieses Sammelsurium aus der Weltküche lässt allerdings einen übergreifenden Gedanken vermissen. Der Kanon der deftigen bürgerlichen Küche hat auch für Zusammenhalt gesorgt, nicht nur am Mittagstisch. Stattdessen steht jetzt eine Beliebigkeit auf dem Menü, die zwar Weltläufigkeit suggeriert, aber eine Identität vermissen lässt.

Es ist diese Identität des Bürgerlichen, auf die die großen Volksparteien immer gesetzt haben – und für die Zukunft dieser Parteien ist der Niedergang der traditionellen deutschen Küche ein Menetekel: Wenn es schon über den Speisezettel keine Einigkeit mehr gibt, werden die Bürger auch in der Wahlkabine à la carte bestellen.

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