- Urlaub im Wunderland
Das Reich der Magie ist der Verlierer der globalisierten Postmoderne – Salman Rushdie schickt einen kleinen Retter los.
Was Kino kann, hat
vor zwei Jahren Quentin Tarantino vorgeführt. Eine große
Kino-Explosion befreit in «Inglourious Basterds», diesem Jubelfest
des Kontrafaktischen, die Welt von Hitler, Goebbels und der
gesamten Reichsführung. So funktionieren Märchen: die Hexe im Ofen.
In Salman Rushdies neuem Roman «Luka und das Lebensfeuer», der
Fortsetzung seiner Harun-Saga, gerät Haruns Bruder Luka ins Land
der Riesenratten. Dabei handelt es sich um ein «Respektorat», so
genannt, weil hier der absolute Respekt gefordert ist,
gleichbedeutend mit dem Verbot jedes Zweifels daran, dass zwei mal
zwei fünf und die Welt flach ist. «‹Aber das ist doch Unsinn!› Die
Worte platzten einfach so aus Luka heraus, und schlagartig
erstarrten die Ratten in ihrer jeweiligen Haltung.»
Es droht, man ahnt es, die Fatwa: Ein «schwarzes Mal» habe der
Häretiker verdient, beschließt die «Inquisitorratte». Doch in
dieser Sekunde explodiert sozusagen das Kino, eine Fliegerstaffel
erscheint am Himmel, angeführt von der «Insultana von Ott», einer
Art Kleinmädchenversion der amerikanischen Freiheitsstatue mit Hang
zur Respektlosigkeit: «Keiner ist besser im Dissen.» Sie lässt die
Ratten mit fauligem Gemüse bombardieren. Nach der Einflüsterung
Lukas schaltet die Luftwaffe auf Juckpulver um, eine tödliche
Waffe: «Die dünnhäutigen Herren des Respektorats kratzten sich
buchstäblich in Stücke und rissen sich in Fetzen.»
Ja, die Hexe brutzelt. Und, ja, die Apostrophierung von Menschen
als Ratten hat eine gruselige Vorgeschichte. Aber aus der Umkehrung
der Fluchgewalt, die auch noch westliche Weltverbesserungsvisionen
parodiert, besteht keineswegs, wie es manche Kritiken nahelegen,
der Kern dieser Fabel. Dem Autor gar «Mordlust» zu attestieren,
verfängt noch weniger als bei Tarantino. Rushdie hat sich die – in
seinem Fall mehr als verständliche – Volte gegen islamische
Scheinrepubliken einfach nicht verkneifen können, obwohl sie in
ihrem Kriegslm-Realismus nicht so recht zur sonst eher
philosophisch grundierten Handlung passt.
Im Mythiversum der Weltkulturen
Worum geht es? Luka, der Sohn des berühmten, sterbenden Geschichtenerzählers Raschid Khalifa, taucht in dessen Gedankenwelt ein, und zwar aus purem Trotz: Er will nicht hinnehmen, dass das Lebensfeuer des Vaters erlischt. Damit aber wiederholt er die Urszene des Mythos. Prometheus gleich gilt es, dem Himmel die Fackel zu entreißen und mit ihr den Tod zurückzuschlagen. Das führt hier zwar nicht zur Unsterblichkeit, aber doch zur kosmischen Mündigkeit: Bewusst entscheiden sich die Protagonisten zuletzt für die Endlichkeit.
Bis dahin aber ist
ein hoch verdichtetes, wenngleich weitgehend abgemeldetes
Mythiversum zu durchkreuzen, in das der Autor mit leichter Hand und
breitem Wissen nicht nur die Legenden sämtlicher Weltkulturen
eingerührt hat, sondern auch noch, um auf der Höhe der Zeit zu
erscheinen, die Algorithmen-Szenerien moderner Computerspiele:
Luka, zugleich Argonaut, Avatar Vishnus, Befreiungstheologe (im
Hinblick auf unterdrückte Drachen) sowie «Großmeister aller Games»,
darf die erreichten «Levels» seines fantasy-adventures jeweils per
Knopf abspeichern, die Anzahl der verbliebenen Leben wird gleich
daneben angezeigt. Zwar haben die zu überwindenden Schwierigkeiten
– seltsame Nebel, Zeitstrudel, Monster und altbekannte Götter –
eine gewisse Beliebigkeit. Aber ihre Überwindung ist doch
unterhaltsam, zumal Rushdies Witz das Imaginierte vor neugotischem
Erwählten-Pathos bewahrt. Zwei wichtige Begleiter des Helden sind
eine transparente Version seines Vaters, der mit William Blake
sinnfällig «Nobodaddy» heißt, sowie erwähnte Insultana, die nicht
zufällig auch den Namen der Mutter, Soraya, trägt. Dieses Paradies
voller charmanter Käuze, das sich zugleich als Endlager religiöser
Offenbarungen zu erkennen gibt, ist also einzig für Luka bestimmt.
Dem Autor ist es nicht zuletzt um eine pfge Versöhnung von Mythos
und Individualismus zu tun: Jeder darf sich seine eigene Tradition
aus den Versatzstücken zusammenbauen. Nichts läge Rushdie ferner
als die Errichtung einer autarken Gegenwelt nach
«Mittelerde»-Format.
Vielleicht hätte das Originelle nicht auch noch formal und
strukturell auf die Spitze getrieben werden müssen, indem Ra halbe
Seiten auf «Hieroglyphisch» spricht oder Luka von magischen Sphären
überwechselt in eine weitere «Anderhandvariante der Erde», eine
Matrix hinter der Matrix. Noch ärgerlicher ist, dass dem
knallbunten Einfallsreichtum die Peinlichkeit einer bewusst naiven
Beschwörung des Träumerischen gegenübersteht. Denn allzu deutlich
will dieses Kinderbuch für Erwachsene eine Allegorie auf die Macht
der Phantasie und des Erzählens sein, ein Meta-Mythos im Zeichen
der Rekultivierung unserer postmodern verarmten Existenz: «Allein
durch Geschichten könnt ihr zurück in die reale Welt gelangen und
wieder an Macht gewinnen», ruft Luka den abgehalfterten Göttern zu.
Das einzig Unkreative an dieser Orgie der Einbildungskraft aber ist
eine solche Anbetung des Kreativen selbst. Doch jenseits dieser
Botschaft lädt Rushdies alt-neues Wunderland zum Traumurlaub vom
Faktischen ein. Jetzt ist das Kino am Zug.
Salman Rushdie
Luka und das Lebensfeuer. Roman
Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Rowohlt, Reinbek 2011.
272 S., 19,95 €
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