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() Götz Aly
Unser Kampf 1968

Die 68er waren ihren Vätern näher, als ihnen heute lieb sein kann, sagt der Historiker Götz Aly.

Am 30. Januar kreuzten sich die Erinnerungen an die 75. Wiederkehr der Machtergreifung Hitlers und an die ausgedehnten Feierlichkeiten für die deutschen 68er. Zwischen beiden Daten liegt der Abstand einer Generation. Das heißt grosso modo: Die jungen und besonders tatendurstigen Gefolgsleute der NSDAP, die 33er, wurden – oft infolge von Krieg und Gefangenschaft etwas verzögert - die Eltern der späteren 68er. Deshalb liegt es nahe, die Parallelen in den Blick zu nehmen, die zwischen den politischen Sturm- und Drangjahren der unmittelbar aufeinander folgenden Generationskohorten bestehen. Diese wie jene sahen sich als „Bewegung“, betrachteten das „System“ der Republik als historisch überholt, wenn auch mit unterschiedlichen Argumentationen. Sie verachteten den Pluralismus und den Kompromiss, sie liebten den Kampf und die Aktion. Mehr noch: Am 27.Juni 1967 notierte Rudi Dutschke in seinem Tagebuch: „In der Kneipe ‚Machtergreifungsplan‘ ausgepackt. Riesige Überraschung.“ Zwei Tage vorher hatte er während einer nicht öffentlichen Diskussion über die Perspektiven für ein rätedemokratisch regiertes Westberlin protokolliert: „Es ist nicht mehr übermütiger Irrsinn, in dieser Stadt die Machtfrage zu stellen.“ An den kalifornischen Blumenkindern kritisierte er, sie hätten „die Machtfrage vergessen“. Im Oktober 1967 veranstaltete Hans Magnus Enzensberger mit Rudi Dutschke, Bernd Rabehl und Christian Semler ein Gespräch über die Zukunft. Auszüge daraus erschienen ein Jahr später im „Kursbuch“, das für einige Jahre zum weltanschaulichen Leitheft der Revoltierenden wurde. Mit dem volkseigenen Hang zur Gründlichkeit malten die Diskutanten aus, wie es in absehbarer Zeit im befreiten Gebiet Westberlin zugehen werde. „Ein Großteil der Bürokraten wird nach Westdeutschland emigrieren müssen“, meinte Rabehl und ergänzte für den Fall, dass die „antiautoritäre“ Umerziehung nach der Machtübernahme teilweise fehlschlagen sollte: „Wo es ganz klar ist, dass Umerziehung unmöglich ist, etwa bei älteren Leuten, da sollte man den Betreffenden die Möglichkeit geben auszuwandern.“ Im Übrigen machte er die Rentner verächtlich. Man bekomme „ein Grausen“, wenn man sie nur sähe: „Sie sitzen schon als Leichen dort auf der Bank.“ Die totalitäre Sprache und der Hang zum gewalttätigen Aktionismus, die sich in den Sätzen von Rabehl und Dutschke äußern, fielen nicht wenigen kritischen Geistern 1967/68 sofort auf. Als Berliner Studenten unmittelbar nach dem Tod von Benno Ohnesorg zum Zeichen ihres Entsetzens Springer-Zeitungen verbrannten, kommentierte Joachim Fest: „Fatale Erinnerungen beunruhigen die extremen Gruppen nicht – ihr politisches Bewusstsein wähnt sich im Stande der Unschuld. Sie plädieren für die Beseitigung dessen, was sie (wiederum ganz unschuldig) das ‚System‘ nennen.“ Max Horkheimer, der 1933 aus Deutschland hatte flüchten müssen, befürchtete schon 1967 einen immer stärkeren „Pro-Totalitarismus“ der protestierenden Studenten. Aus ganz anderen Erfahrungen heraus gelangte der damalige Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger zu ähnlichen Einsichten: „Wir, die junge Generation der zwanziger Jahre, verhielten uns gegenüber den damaligen Politikern genauso arrogant, wie es unsere Studenten heute gegenüber uns sind.“ Deshalb riet er immer wieder zum behutsamen Vorgehen. Richard Löwenthal, der 1933 als Linkssozialist in den Untergrund und zwei Jahre später ins Exil gegangen war, fühlte sich schnell vom revolutionären Veränderungswillen der 68er abgestoßen. „Es ist immer misslich, wenn sich Studenten kollektiv als Elite der Nation zu fühlen beginnen“, hielt er den Vertretern der Neuen Linken vor: Deutschland sei nicht deshalb „dem studentischen Elitedenken von rechts entronnen, um ein studentisches Elitedenken von links großzuziehen“. Bei allen Unterschieden und Gegensätzen in ihren Lebenswegen wussten Fest, Horkheimer, Kiesinger und Löwenthal aus eigener Erfahrung eines: Die nationalsozialistische Machtergreifung vom 30.Januar 1933 muss als Generationenprojekt verstanden werden, als der Beginn einer schrecklichen Jugenddiktatur. Joseph Goebbels war an diesem Tag 35 Jahre alt, Reinhard Heydrich 28, Albert Speer 27, Adolf Eichmann 26, Josef Mengele 21, Heinrich Himmler und Hans Frank waren 32. Hermann Göring – einer der Älteren – hatte soeben seinen 40.Geburtstag gefeiert, Hitler steuerte auf den 44. zu. Je mehr Staats- und Parteistellen neu besetzt werden konnten, sei es infolge der Entlassung Unliebsamer oder ständiger Expansion, desto mehr Junge rückten in den folgenden Jahren nach. Sie betrachteten den NS-Staat als Chance zu rascher Selbstverwirklichung. 1943 stellte Goebbels nach der Lektüre einer parteistatistischen Erhebung beglückt fest: „Das Durchschnittsalter der führenden Persönlichkeiten beträgt auch in der mittleren Schicht der Partei 34 und innerhalb des Staates 44 Jahre. Man kann also in der Tat davon sprechen, dass Deutschland heute von seiner Jugend geführt wird.“ Zugleich verlangte der Propagandaminister nach „personeller Auffrischung“. Er wird an junge Leute wie beispielsweise den späteren Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer gedacht haben. Dieser mokierte sich 1942 – als 27-jähriger Besatzungsfunktionär in Prag – über die zögerlichen älteren Beamten, die den Aufbruch in den „wirklichen Nationalsozialismus“ störten, mit jugendbewegter Verve: „Die uns in jungen Jahren in der Kampfzeit anerzogene Bereitschaft, Aufgaben zu suchen und nicht auf sie zu warten, der ständige Einsatz für die Bewegung haben uns früher als üblich in die Verantwortung gestellt.“ Schleyer repräsentierte den jungen Nationalsozialis ten, der nach dem allenfalls alt-neuen späteren Motto der 68er verfuhr „Trau keinem über dreißig“. Die Möglichkeit zur Machtübernahme war der NSDAP im Frühjahr 1933 aufgrund der extremen Not der Weltwirtschaftskrise zugefallen, die gesellschaftliche Mehrheit konnte sie erst nach zwei Regierungsjahren gewinnen. Außenpolitisch verhalf ihr die weithin populäre Revision des Versailler Vertrags zu diesem Erfolg, innenpolitisch die sorgfältig ausgewogene Mischung aus Staatsterrorismus und sozialpolitischer Konsolidierung. Letztere beruhte allein auf hemmungsloser, von der Bevölkerung nur zu gern ignorierter Staatsverschuldung. Im signifikanten Unterschied zu allgemeinen Wahlen hatte der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund seit 1929 die Herrschaft über die Allgemeinen Studentenausschüsse erobert, vielfach mit Mehrheiten von deutlich über 60 Prozent. Die NSDAP profitierte vom bildungspolitischen Willen des Weimarer Staates: In demokratischer und demokratisierender Absicht hatten dessen Politiker viel darangesetzt, die Zahl der Abiturienten und der Hochschüler zu verdoppeln. Um das Bildungsmonopol einer kleinen aus dem Kaiserreich stammenden Kaste zu brechen, um die Intelligenzreserven in den sozial benachteiligten Schichten des Volkes zu erschließen, förderte die Republik in bester Absicht junge Leute, die vielfach als Erste in ihren Familien den Sprung an die Universitäten schafften. Bald gehörten die derart sozial aufwärts Mobilisierten zur radikalen Trägerschicht des nazistischen Deutschland. Sie wurden zu Totengräbern der Verfassungsordnung, der sie den Aufstieg verdankten. Die Mehrheit der 33er-Studenten litt an tiefer Unsicherheit. Wenn überhaupt, waren ihre Väter geschlagen, demoralisiert oder verkrüppelt aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt. Der schwache materielle und ideelle Familienhintergrund ließ sie empfänglich werden für die falschen Verlockungen des Kollektivs. Sie feierten den Abschied vom bürgerlichen Individualismus und sahen sich im „Übergang von der Ich-Zeit zur Wir-Zeit“. Eben deshalb sei „die letzte Lebensfrist des Liberalismus abgelaufen“; nun komme es darauf an, diesem unklaren, antiutopischen Denken „endgültig den Garaus zu machen“ (die 68er hatten es ebenfalls auf die „Scheiß-Liberalen“ abgesehen). Die 33er denunzierten die vorsichtigen, differenziert argumentierenden Pragmatiker als „zerstreute Kompromissmenschen“, die sich stets auf die relativierende Formel herausredeten „Bis zu einem gewissen Grade“, die dazu neigten, die „Welt in Millionen kleinster Teile“ aufzulösen, und folglich jedes bedeutsame Ziel aus den Augen verlören. Ununterbrochen redeten sie sich in der NS-Studentenzeitung Die Bewegung gegenseitig ein, „das neue Deutschland“ brauche „Kämpfer, keine Bierphilister“. Für die NS-Studenten wurden nicht so sehr die Kommunisten zu Erzfeinden, sondern die Spießbürger: „diese schwammigen, fettgepolsterten und kahlköpfigen Rundbäuche, die nichts verlangen als ihre Ruhe und ein Gläschen Wein, die es nichts angeht, wenn zwei Straßenecken weiter eine Witwe den Gashahn öffnet, weil sie nicht mehr weiß, womit sie ihre Kinder ernähren soll“. Die antibürgerlichen Momente, das Bewegungsselige, die kalkulierte Regelverletzung, das Gefühl der NS-Studenten, einer klassenübergreifenden, dem Wohl des eigenen Volkes verpflichteten Avantgarde anzugehören, all das machte den nationalrevolutionären Protest attraktiv. „Der Student darf sich nicht ziehen lassen, er muss ziehen“, forderte Joseph Goebbels 1929 und fügte hinzu: „Studenten und Arbeiter werden das Deutschland der Zukunft aus der Taufe heben.“ Den Ton hatte der spätere Propagandaminister seinem Führer abgelauscht, der schon früh den Kampf der Jungen gegen die Alten ausgerufen hatte. Statt der verweichlichten Bürgersöhnchen wünschte sich Hitler Studenten, „die in die Masse hineinzugehen verstehen und lebendigen Anteil nehmen am Massenkampf“. Er geißelte die „Entpolitisierung der Studentenschaft“ und bezeichnete den Angriff als „Freiheitskampf der jungen Generation“. Wie die späteren 68er drängten ihre Vorgänger auf die gesellschaftliche Relevanz der Studiengegenstände. Beide Studentenbewegungen protestierten gegen den Muff von tausend Jahren. Die Forderungen der universitären Nazis für „eine durchgreifende Hochschulreform“ zum Abbau der professoralen Alleinherrschaft lauteten 1932: „Errichtung rassekundlicher Lehrstühle, Berechtigung der Studentenschaft, zu Berufungen Stellung zu nehmen, Änderung der Prüfungs- und Studienordnung, Staffelung der Hörgelder nach dem Einkommen der Eltern. Wir fordern Ausbau der Selbstverwaltung der Studentenschaft und stärkere Einflussnahme auf die Studentenhilfe.“ In antiautoritärem Tonfall zog Goebbels die wissenschaftliche Arbeit der Professoren als Produktion von „Buch- und Afterweisheit“ ins Lächerliche, warf ihnen vor, sie würden ihre der Zukunft zugewandten Studenten am Ende als „streng thronende Prüfer gelassen und hochmütig“ am „aufgehäuften Paragrafenstaub messen“. Der spätere Propagandaminister giftete gegen das Versinken in „Wissenschaft, Statistik, Beruf, Strebertum, Fachsimpelei“ und die „flegelhafte Arroganz des ‚Gebildeten‘ dem ‚Volk‘ gegenüber“. „Erst der Werkstudent“, der in die Bergwerke hinuntersteige und neben dem Kumpel in harter Handarbeit um die Rohstoffgrundlagen der Nation kämpfe, weise „neue Wege“, nur er könne „die Fäden zwischen Hörsaal und Grube“ knüpfen. Es entsprach purer ahistorischer Einbildung, als Dutschke im Februar 1968 in der Evangelischen Akademie Bad Boll verkündete: „Dass Bürgersöhnchen und elitäre Gruppen der Gesellschaft anfangen, ihr Elitedasein und die verinnerlichten Mechanismen der elitären Haltung zu beseitigen, ist etwas historisch Neues in Deutschland, und das sollte gesehen werden.“ Ähnlich wie später Dutschke forderte Goebbels sein akademisches Publikum zur Bildung revolutionärer Bewusstseinsgruppen auf, zur Agitation in der Aktion: „Einer muss anfangen! Stürzen Sie die alten Altäre um! Rotten Sie den alten Menschen in Ihrem Hirn und Herzen aus! Nehmen Sie die Axt in die Hand und zertrümmern Sie die Lüge einer alten falschen Welt! Machen Sie Revolution in sich! Das Ende wird der neue Mensch sein!“ Wer den neuen Menschen schaffen will, legt sich mit der Staatsgewalt an. Auch die NS-Studenten erinnerten ihre Kampfzeit später als Lebensabschnitt, in dem sie „Polizisten mit gezücktem Gummiknüppel“ trotzten, es beispielsweise ertrugen, wie sie der Polizeipräsident wegen antisemitischer Umtriebe im November 1930 aus der Berliner Universität jagte. Er „wütete mit seiner Prügelgarde unter Studenten und Studentinnen schlimmer als Iwan der Schreckliche“. Schließlich schritt der Rektor der Berliner Universität ein, vermittelte und erreichte den Rückzug der Polizei vom Campus. Die braunen Studenten johlten den abziehenden, der Republik verpflichteten Polizisten hinterher: „Muss i’ denn, muss i’ denn zum Städtele hinaus.“ Schon bald wurden im Zeichen des staatlichen Appeasements „drei der verhafteten Nationalsozialisten freigelassen“. Kaum war das erreicht, verkündete die NS-Studentenzeitung Die Bewegung, wie der Kampf gegen „das heutige System“ weiterzuführen sei: „Die maßgebenden Männer des korrupten Systems können sich aber nach derartigen Vorfällen mit Bombensicherheit darauf gefasst machen, dass noch kräftigere und lauter schallende Maulschellen folgen werden.“ Bei allen Ähnlichkeiten in den politischen Ausdrucksformen und zum Teil in den hochschulreformerischen Zielen liegt der wesentliche Unterschied zwischen den 33ern und den 68ern auf der Hand: Die Revolte der einen führte rasch zur Macht, zu furchterregenden Karrieren und Konsequenzen; die der anderen endete ebenso rasch in der Niederlage, zumindest in der Zersplitterung. Die 68er verzichteten auf einen Teil ihrer beruflichen Chancen. Später passten sie sich nach individuell verschieden langen Umwegen wieder an die durchaus reformfähige Mehrheitsgesellschaft an. Verglichen mit der NS-Zeit sind die Folgen der 68er-(Un-)Taten belanglos. Albern ist das Gerede davon, dass die vielleicht 200 000 jungen Leute, die vor 40 Jahren einen kleinen Aufstand probten und verloren, irgendein Problem verschuldet hätten, das die Bürger der Bundesrepublik heute beschäftigt. Umgekehrt findet sich kein Grund zum Stolz auf 68. Die Kinder der 33er waren Getriebene, konfrontiert mit einer Last, die sie nicht zu verantworten hatten, der sie jedoch nicht ausweichen konnten. Chinesisch, kubanisch, sowjetisch oder trotzkistisch verfremdet veranstalteten sie nach den in Deutschland gebräuchlichen Regievorlagen eine Farce, die der Tragödie von 1933 folgte. Sie inszenierten eine Variante des politisch eindimensionalen Utopismus, auf dessen Trümmern sie groß geworden waren. An die Stelle des extrem schuldbehafteten Nationalismus der Eltern setzten sie den Internationalismus. Bundeskanzler Kiesinger durchschaute das Spiel sofort. Ohne Abitur, als kleiner Leute Kind hatte er es dank der Begabtenförderung der Weimarer Republik zum Volljuristen gebracht und war 1933 der NSDAP beigetreten, weil er, wie er sagte, „national und nationalistisch nicht genügend klar unterschieden“ hatte. Ihm erschien die moralisch verbrämte Überheblichkeit verdächtig, mit der sich die 68er-Studenten hauptsächlich für Konflikte engagierten, „die ihre Wurzel im Ausland haben“, gerade so, als gäbe es in Deutschland nicht genug zu besprechen. Seiner Ansicht nach folgten sie der „merkwürdigen Illusion“, sie könnten so „aus der deutschen Geschichte fliehen“. Dann konfrontierte er seine Berater mit der Frage: „Schwingt da nicht – gewissermaßen als Kehrseite – die Einstellung mit, ‚Am deutschen Wesen muss die Welt genesen‘?“ Da es still in der Runde blieb, antwortete er selbst: „Ich sehe darin eine schulmeisterliche, missionarische Umkehrung unseres früheren extremen Nationalismus.“ Die Kraft, so auch öffentlich zu reden, fand Kurt Georg Kiesinger nie. Götz Aly ist Historiker und Journalist mit den Themenschwerpunkten Euthanasie, Holocaust und Wirtschaftspolitik der nationalsozialistischen Diktatur. Soeben erschien: Unser Kampf. 1968 – ein irritierter Blick zurück, Fischer Verlag (Foto: Picture Alliance)

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