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Norm und Minderheiten - Das Diktat des Andersseins

Kolumne: Grauzone. Wenn alle individuell sein wollen, wo liegt dann noch die Norm? Im Unnormalen? Das führt nicht nur zu sprachlichen Absurditäten

Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Zur Normalität hat der Mensch der Moderne ein ziemlich gespaltenes Verhältnis.

Einerseits gibt es für ihn kaum etwas Schlimmeres, als normal, also durchschnittlich oder alltäglich zu sein. Normalität ist für das sich selbstverwirklichende Individuum des frühen 21. Jahrhunderts der Horror schlechthin. Also stürzt es sich im Wingsuit aus einem Flugzeug, klettert durch den Himalaja und entspannt beim Rafting auf dem Rio Pacuare.

Andererseits gehört es zu seinem polyglotten und weltgewandten Selbstverständnis, alles „völlig normal“ zu finden, was andere, weniger aufgeschlossene Menschen als exotisch oder ungewöhnlich ansehen könnten.

Und so pendelt das nach Exklusivität und Andersartigkeit gierende Ego unserer Tage zwischen der Zelebrierung des Ungewöhnlichen und Unnormalen und dessen Leugnung. Das ist natürlich anstrengend und führt zu intellektuellen Verrenkungen.

Früher war alles besser


Noch vor wenigen Jahrzehnten sah die Welt einfacher aus. Da galt es als Ausweis gediegener Bürgerlichkeit, möglichst „normal“ zu sein. Konsequenterweise äußerte sich diese Kultur der Normalität in einer Faszination für alles Unnormale und Andersartige – man denke nur an die Kuriositätenschauen, die sich bis weit in das 20. Jahrhundert hinein größter Beliebtheit erfreuten.

Inzwischen hat sich das Blatt grundlegend gewendet. „Normal“ zu sein, gilt heutzutage als Zeichen misslungener Emanzipation und biederer Durchschnittlichkeit. Zugleich gilt es als moralischer Sündenfall schlechthin, das aus unserer Sicht Unnormale unnormal zu nennen. Dem wohnt eine gewisse Logik inne: Wenn alle „anders“ sein wollen, ist es verwerflich, das „Andere“ als das Andere zu bezeichnen.

So weit, so verworren. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt: Wenn es zur Norm einer Gesellschaft gehört, nach Möglichkeit nicht der Norm zu entsprechen, kommt Minderheiten eine erhebliche normierende Bedeutung zu. Einfach ausgedrückt: Wenn keiner „normal“ sein will, wollen alle Minderheit sein.

Doch leider: Der Mensch ist viel durchschnittlicher, als es das auf Individualismus versessene Individuum unserer Zeit wahr haben möchte. Was also tun?

Es lebe die Minderheit!


Eine probate Möglichkeit: Sich selbst als Mitglied einer Minderheit zelebrieren. Etwa, indem ich mich einer religiösen Sekte anschließe oder einer Subkultur. Oder dadurch, dass ich persönliche Eigenschaften herausstreiche, die mich von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden – zum Beispiel meine sexuellen Vorlieben.

Das Ergebnis: die postmoderne Emanzipationsgesellschaft scheint zu einem Konglomerat von Minderheiten zu mutieren. Das Selbstverwirklichungsego tauscht seine Zugehörigkeit zu einer Mehrheitsgesellschaft gegen das Bekenntnis zu einem Kleinst-Kollektiv.

Nun gehört es zu den traurigen Kapiteln abendländischer Geschichte, über Jahrhunderte Minderheiten stigmatisiert und gezielt ausgegrenzt zu haben. Die positive Umwertung des Andersseins, die in westlichen Gesellschaften seit den 60er Jahren zu beobachten ist, wirkt vor diesem Hintergrund verständlich – zeitigt allerdings kuriose Folgen.

Sprachnorm und Sprachmoral


Das ärgerlichste Ergebnis dieser Entwicklung ist eine ziemlich verkrachte Sprachmoral: Sie läuft darauf hinaus, dass Minderheiten sich selbst als Minderheiten inszenieren dürfen, ja sollen. Die Mehrheitsgesellschaft hingegen muss so tun, als würde sie die Minderheit überhaupt nicht als solche wahrnehmen. Alles andere wäre nämlich diskriminierend.

Eine Ursache für diese reichlich alberne Situation ist die unsaubere Verwendung des Ausdrucks „normal“. Normal hat nämlich zwei Bedeutungen: eine statistische und eine normative. Wenn man die beiden Bedeutungen miteinander verwechselt, wird es ziemlich kompliziert.

Traditioneller Weise herrscht in Gesellschaften eine Art normative Kraft des Faktischen: Normal (im normativen Sinne) ist, was normal (im statistischen Sinne) ist. Das ist sinnvoll, minimiert Konflikte und ist sogar demokratisch.

Das Problem der Deutungshoheit


In postmodernen westlichen Gesellschaften hingegen ist alles normal (normativ), ob es nun normal ist (statistisch) oder nicht. Der zivilisatorische Fortschritt hierbei: Minderheiten werden geschützt. Der Haken an der Sache: Das Unnormale (statistisch) wird nicht geschützt, weil es ein Individualrecht ist, unnormal (statistisch) zu sein, sondern weil es das Unnormale (statistisch) angeblich gar nicht gibt, da alles normal (normativ) ist.

Das ist natürlich Unfug. Und dem Minderheitenschutz ist damit auch nicht gedient. Denn der besteht gerade darin, das Abweichende zu schützen, obwohl es nicht normal (statistisch und/oder normativ) ist. Alles andere ist oberflächliche Gleichmacherei.

Individuen haben Rechte als Individuen. Der unsägliche Diskurs über die Normalität irgendwelcher Eigenschaften führt jedoch zu einem Minderheitenkult, der Individualrechte aus der Zugehörigkeit zu irgendeinem Mikro-Kollektiv ableitet. Wer so argumentiert, will im Grunde gar keine Minderheitenrechte. Ihm geht um die normative Deutungshoheit, einen Minderheitenuniversalismus. Der jedoch ist das Gegenteil von Pluralismus - eine neue rigide Normierung.

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