Dieses Bild ist leider nicht mehr verfügbar
(picture alliance) Transparenz bedeutet nicht gleich Aufrichtigkeit

Doppelmoral - Transparenz ist die Tugend der Lumpen

Die Rufe nach Transparenz wollen seit Wochen nicht verhallen. Dabei hat sie nichts mit Aufrichtigkeit zu tun. Im Gegenteil

Erst die Steinbrück-Honorare, dann die Strepp-Affäre und nun – wieder mal bzw. immer noch – die Piraten, die sich öffentlich selbst zerlegen: Transparenz ist das Leitthema dieser Wochen. Da stellt sich die Frage: woher kommt sie eigentlich? Und: brauchen wir sie überhaupt?

Der Erfinder der Transparenz ist Martin Luther. Die Reformation war eine Bewegung für mehr Transparenz. Die Gläubigen sollten keine dummen Schäfchen mehr sein, die brav wiederkäuen, was ihnen die kirchliche Autorität zubereitet, sondern selber nachprüfen, was von der päpstlichen Doktrin stimmt und was nicht. Der Link dazu war der Blick in die Bibel, die Luther bekanntlich ins Deutsche übersetzte und damit der breiten Masse zugänglich machte.

Zugleich ging es, wie immer, ums Geld. Der Ablasshandel in Europa blühte, Grund waren allerdings nicht die Sünden der braven Christenmenschen, sondern die Bautätigkeiten von Papst Leo X., einem sehr weltlich gesinnten Oberhirten, welche exorbitante Summen verschlangen. Diese Ausgaben und die krummen Wege, auf welchen sie gedeckt werden sollten, setzte Luther auf den Prüfstand und damit zugleich das ganz unfromme Lotterleben der Kurie, das dem Vergleich mit Berlusconi und Bunga-Bunga mühelos standhält.

Luthers fixe Idee war, durch schonungslose Offenlegung von allem, was sich an der weltlichen Oberfläche abspielt, die innere Seligkeit zu erlangen. Gnadenlose Transparenz wurde der Schlüssel zur göttlichen Gnade. Nicht die Tat zählte mehr, sondern das Wort. Jede Behauptung musste künftig mit der Bibel belegt werden. Rechenschaft legte man nicht mehr vor Gott – bzw. vor seinem eigenen Gewissen – ab, sondern vor aller Welt.

Dumm nur: Mit der Bibel lässt sich schlechterdings alles und nichts begründen und rechtfertigen. Was Luther und seine Nachfolger nicht sahen: Transparenz ist ein rein formaler und deshalb leerer Wert. Wahrhaftigkeit ist nicht gleich Wahrheit, formelle Ehrlichkeit ersetzt nicht innere, wesenhafte Aufrichtigkeit. So wurde die europäische Neuzeit denn auch zum Zeitalter der Unaufrichtigkeit. Das Postulat der Transparenz befreite den Menschen nämlich von der christlichen Urpflicht, sich über seine Taten vorher klar zu werden und dann erst zu handeln. Stattdessen musste er – wie bequem! – nur mehr hinterher alles offenlegen. Was er getan hatte oder nicht, war auf einmal völlig egal. Die Moral wurde zur bloßen statistischen Kenngröße.

Die Folge waren fünfhundert Jahre lang nationalistische Kriege und kapitalistische Ausbeutung. Am schlimmsten trieb es dabei der protestantische Musterstaat England: dort war man sehr früh „transparent“, es gab schon im siebzehnten Jahrhundert ein mächtiges Parlament und ein blühendes Zeitungswesen. Die englische Politik konnte sich bequem darauf berufen, dass ja alle ihre Schritte „öffentlich“ diskutiert wurden, ergo „transparent“ waren; was das für Schritte waren: ob Kriegstreiberei auf dem Kontinent oder Sklavenhandel in Übersee, war unerheblich. Die klassisch regierenden, absolutistischen Fürsten dagegen mussten es mit sich selbst im stillen Kämmerlein ausmachen, ob das, was sie zu tun vorhatten, gut war oder nicht, und gerieten dadurch nicht selten in Gewissenskonflikte, die viel über den tiefen moralischen Charakter der absoluten Herrschaft aussagen.

Nächste Seite: Das Musterländle der Transparenz ist heute Deutschland

Dasselbe gilt bei der modernen Wissenschaft. Die ist geradezu vom Transparenzteufel besessen. Von Galilei bis Bill Gates hat sie die Welt außen wie innen rundum beschrieben; dem Geheimnis, woraus diese Welt denn nun wirklich entstanden ist und was sie im Innersten zusammenhält, ist sie dabei nicht einen winzigen Schritt näher gekommen.

Dank der Physik wissen wir, dass die Erde als Himmelskörper buchstäblich am seidenen Faden hängt; aber sie dreht sich trotzdem immer noch, und komischerweise will sich einfach kein Meteorit in ihre Nähe wagen. Dank der Chemie wissen wir, dass 99 Prozent von dem, was wir essen, Dreck, Gift oder sonst irgendwie unverträglich sind; und dennoch kann man immer noch essen, was man will und stirbt wunderbarerweise trotzdem nicht daran. Und dank Immanuel Kant wurde (was übrigens schon damals nichts Neues war) der ontologische Gottesbeweis widerlegt; nur über die Existenz oder Nicht-Existenz Gottes sagt diese Widerlegung dabei aber dummerweise was aus? Sie ahnen es – gar nichts.

Das Musterländle der Transparenz ist heute Deutschland, mit einem Pfarrer und einer Pfarrerstochter an der Spitze. Beide kommen aus einer Diktatur, weshalb sie so sehr auf Transparenz abfahren, und beiden gemein ist die rhetorische Affinität zur Predigt, in der bekanntlich viel geredet und nichts gesagt wird. Die katholische Messe gibt durch ihr Zeremoniell dem Gläubigen sechzig Minuten lang die Chance, in sich zu gehen und, im Idealfall, mit sich selbst ins Reine zu kommen. Der protestantische Gottesdienst dagegen erinnert an typische „transparente“ Veranstaltungen wie Podiumsdiskussionen und Buchvorstellungen, wo niemand im Anschluss ernsthaft behauptet, er habe irgendwas gelernt, was er nicht schon vorher wusste oder hätte wissen können.

Die Transparenz ist die Tugend der Lumpen. Sie degradiert das menschliche Handeln zum bloßen Machen, das dann nachher aufgelistet wird wie ein Chatprotokoll oder die Primzahlen. Ihre moralische Wirkung und auch ihr faktischer Nutzen ist gleich null. Wer sich an seine letzte Liebesbeziehung erinnert, weiß, dass das, was ans Licht kommen soll, ohnehin ans Licht kommt, ob man sich nun „transparent“ verhält oder nicht. In der Politik ist das genauso: jedes Schulkind in Deutschland weiß, dass Politiker keine armen Schlucker sind und dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk von den Parteien kontrolliert wird – so what?

Statt um Transparenz, diese sinnlose Aftertugend, diese Moral ohne Moral, sollte es um etwas anderes gehen: Aufrichtigkeit. Aufrichtigkeit, das ist: Ehrlichkeit und zwar mit sich selbst. Ein Politiker braucht nicht – wie es die Piraten, dieses spätprotestantische, junggutbürgerliche Geschöpf, schreihalsig fordern – jeden Schritt, den er tut, minutiös zu protokollieren (das tut er ohnehin nicht); aber er sollte sich, bevor er was tut, darüber Rechenschaft ablegen, was er für und mit seinem Land vorhat. Und kein Mensch wird ein besserer, indem er, ob vor Vater Staat oder auf Facebook, die Hosen runterlässt; sondern indem er sich darüber klar wird, wer er ist, was er in diesem Leben vorhat, und ob das, was er gerade tut, gut ist oder nicht. Das innere Gespräch, das er dazu mit sich selbst führen muss, kann ihm keine „Öffentlichkeit“ abnehmen. Und es geht auch wirklich niemanden etwas an.

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.