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Totalüberwachung - Der digitale Mensch muss seine Ketten sprengen

Die Fälle „Prism“ und „Tempora“ zeigen: Jede Technik kann missbraucht werden. Freiheit ist nicht selbstverständlich. Autonomie muss im digitalen Zeitalter erkämpft werden. Plädoyer für eine aufgeklärte Selbstbeschränkung

Alexander Kissler

Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Wer hätte das gedacht: Barack Obama ist offenbar ein knallharter Interessenpolitiker, kein Friedensfürst, kein Weltbeglücker, die Wahl zum Friedensnobelpreisträger war ein Witz mit Ansage. Stattdessen hat die US-amerikanische Regierung den Kalten Krieg für das 21. Jahrhundert aufgehübscht und, ebenso wie die britischen Kollegen, den Datenverkehr der Europäer großräumig abgegriffen. Selbst Beamte und Politiker sollen überwacht und bespitzelt worden sein. Die neue Devise lautet: Vorsicht, Freund hört mit!

Die Entrüstung über diesen in der Tat befremdlichen Generalangriff auf den kontinentalen E-Mail- und Telefonverkehr wäre geringer, kursierte nicht gerade in Deutschland das maximal realitätsuntaugliche Bild einer Weltgesellschaft aus lauter guten Menschen mit hehrsten Absichten. Vermutlich ist nicht einmal Enthüller Edward Snowden ein solches Tugendbündel, wie ihn sich die digitale deutsche Elite gerade bastelt. Auch er dürfte interessengeleitet gehandelt haben – oder aus republikanischem Furor, ein flammendes J’accuse auf den Lippen. Wir wissen es nicht.

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Sehr wohl aber gibt es kaum Zweifel an den mittelfristigen Auswirkungen. Der Gesellschaft wird weiter entzwei fallen, die Kommunikation wird mehr denn je spalten statt verbinden. Der größte Teil der Datennutzer wird sich in seinem Verhalten nicht beirren lassen. Er wird – vielleicht sogar zurecht – darauf vertrauen, dass die schiere Menge der Daten eine präzise Auswertung verhindert. Er wird darauf verwiesen, dass er persönlich sich nichts zuschulden habe kommen lassen, er weder Islamist noch Psychopath oder Wirtschaftskrimineller sei, und dass der Blick auf die systemimmanente Überforderung der Deutschen Bahn und der Deutschen Telekom, ihren Kunden verlässlichen Datenverkehr und Datenservice zu bieten, zeige: Der Mensch kann seiner Technik nie Herr werden.

Der andere aber, der kleinere Teil der Gesellschaft, die semiotische Avantgarde, wird in einen Modus des Unbehagens und des Misstrauens zurückfallen. Der Schock, dass abermals eine neue Technik neue Fesseln brachte – man schlage nach bei Adorno, Anders oder Eisenstadt – sitzt tief. Wer unter den Bedingungen der potentiellen Totalüberwachung seine Autonomie bewahren will, muss diese künftig herstellen. Autonomie im digitalen Zeitalter ist nicht die Einstiegsbedingung, sondern das mühsam zu erkämpfende, vielleicht gar utopische Ziel aller Kommunikation. Am Anfang wird die Unfreiheit sein. Der digitale Mensch wird in Ketten geboren.

Was bleibt zu tun? Der naheliegende und darum falsche Weg wäre es, sich abermals ganz in die Hände der Technik zu werfen. Die Zurückeroberung der Autonomie also von jenen Kräften zu erwarten, die sie dem Menschen aus der Hand schlug. Neue Anonymisierungssoftware, neue Verschlüsselungsprogramme, ein neues Datennetz wären allesamt nur neu. Sie mögen hie und da hilfreich sein, treiben aber letztlich die Knechtschaft voran.

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Klüger, sach- und lebensdienlicher wäre es, auf den Angriff der komplexen Systeme mit Simplifizierung zu reagieren. Kommunikation ohne Technik gibt es nicht, wohl aber Kommunikation mit weniger Technik. Die neue Ära des Unbehagens und Misstrauens ließe sich ins Positive wenden: in ein Zeitalter der direkten Kommunikation. E-Mails, Chats und die sozialen Medien lassen sich an die Kandare der Selbstbeschränkung nehmen. Sie dienen klar definierten Zwecken, sachlich und kühl, sind aber keine Welt- oder Selbsterlösungsprogramme. Sie verlieren den Nimbus, indem der aufgeklärte Nutzer sie zurückstuft zum Mittel. Indem er selbst Realpolitiker wird.

Daneben wird der aufgeklärte Nutzer sich des Briefes entsinnen, der keine Datenspur zieht, der persönlichen Begegnung und des Gesprächs ohne Öffentlichkeit. Er wird erkennen, dass es keine geteilte, keine nach Belieben portionierbare Öffentlichkeit gibt, sondern nur die Öffentlichkeit aller oder meine Individualität. Diese Lektion wird ihn vielleicht befreien: aus den Armen eines Datenmonsters, das er selber nährt.

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