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(picture alliance) Der letzte Tag im Nirgendwo

Tom Kummer über den Tod - „Existieren ist doch bloß ein Plagiat“

Zwölf Jahre sind vergangen, seit Tom Kummers fiktive Interviews mit Hollywood-Stars einen der größten Medienskandale der Berliner Republik auslösten. Heute ist er froh, dass es keine Geheimnisse mehr gibt. Und in seinen letzten 24 Stunden würde er versuchen, sein Herz zu berühren

Meine Hirnkamera wird es richten. Darauf kann ich doch zählen, auch im Angesicht des Todes? Ein unsichtbarer Kameraarm bewegt sich jetzt über mich. Das große Objektiv gleitet langsam übers Gesicht, dann tiefer, über meinen Brustkorb. Ich erkenne dort ein kleines, silbrig schimmerndes Loch in der Brust, in das ich schon seit über eine Stunde meinen Zeigefinger reinstoße. Wirklich komisch, wie gut das tut. Oft schon hat mich der Hirnkamerablick vor der unerträglichen Gegenwart gerettet – vor Abgründen, Ängsten und dem kleinen Sterben in der Blüte des Lebens. Warum nicht auch heute.

Nun soll bloß niemand denken, dass dies irgendwas mit so einer Art Selbstglamourisierung zu tun hat – was ja Leute ohne Hirnkamera gerne den Leuten mit der Kamera im Kopf vorwerfen. Das Gegenteil ist der Fall: Wenn man sich zum Protagonisten im eigenen Film erklärt, stellt man bald fest, dass eigentlich nur eines im Leben zählt: lernen, ein Verlierer zu sein.

Ich liege jetzt also auf einer Pritsche im Schatten eines Joshua Trees, in einer endlosen Ebene, 300 Kilometer östlich von Los Angeles. Es ist ein Stück Wüs­tenland, das wir uns vor Jahren gekauft haben. Meine Frau Nina und ich hatten mal geplant, irgendwann einige smarte Wohncontainer in dieses Niemandsland zu stellen. Wir sind hier oft mit unseren beiden Jungs und durchwandern das Gebirge, wo die Sonora-Wüste auf die Mojave-Wüste stößt. Aber bisher steht auf unserem Grundstück nur ein silberner Streamline-Wohnwagen aus den fünfziger Jahren, neben Yuccas und ausgetrockneten Mojave-Wacholdern. Hier will ich meinen letzten Tag verbringen. Im Nirgendwo. An einem Ort, der einem das Gefühl gibt, vor den Menschen geboren worden zu sein.

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Es gibt keine Geheimnisse mehr. Meine Leute sind versorgt. Sie lieben mich. Ich habe ihnen, so gut es geht, alles gegeben. Es gibt auch keine versteckten Briefe, versteckte Gefühle oder vergrabenes Geld. Alles ist gesagt. Alle Partys gefeiert. Vielleicht gehe ich im Kopf nochmals einige Namen alter Freunde und geliebter Feinde durch und beginne dann zu weinen, mag schon sein. Vielleicht krieche ich später noch so halbnackt über den Wüstenboden, blättere ziellos in alten Büchern von Céline oder Raymond Carver herum. Vielleicht will ich die totale Stille der Wüste noch einmal unterbrechen und lasse auf meinem iPad meine Lieblingssoundtracks fürs Niemandsland abspielen: So was wie Music for Airports oder was von Warp Records.

Womöglich aber eher nicht. Weil ich jetzt ziemlich heftig damit beschäftigt bin, meinen Zeigefinger noch ein bisschen tiefer in dieses Loch in meinem Brustkorb zu stecken. Nach innen vordringen. Vielleicht kann ich ja mein Herz berühren. Das wäre echt wahnsinnig. Vielleicht kann ich es dann selbst stoppen.

Die Hirnkamera schwenkt jetzt auf Totale, zeigt, wie ich hier etwas ausgemergelt im Morgenmantel liege. Es ist ein brutal heißer Tag. Irgendeine braune Dickflüssigkeit läuft mir über meinen rechten Mundwinkel, und dazu denke ich vielleicht so was wie: Existieren ist doch bloß ein Plagiat. Mein Sohn kommt zu mir, wischt mich mit einem Sabberlappen sauber. Nina kniet neben mir, streichelt sanft meine Hand und spritzt nochmals ein bisschen Opium in meinen Unterarm. Das Leben geht weiter. Das ist alles. 

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