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Rammsteinsänger im Porträt - Der nette Herr Lindemann

Der bekannteste deutsche Popstar, Till Lindemann, gibt auch ohne Rammstein und mit englischen Texten den abgründigen Bürgerschreck. Ist es Pose oder Rollenspiel?  

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Winkler, Thomas

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Natürlich ist er eigentlich ein Netter. Sagt sehr höflich „Guten Tag“ und singsangt zum Abschied „Tschü-hüss“. Spricht mit sanfter Stimme. Denkt lange nach, bevor er etwas sagt. Und dann sagt er gar nicht doofe Sachen wie: „Wenn man die Provokation in nette Musik verpackt, dann erhöht das den Effekt.“ Wie das halt oft so ist mit den bühnenwirksamen Berserkern: Im wahren Leben entpuppt sich selbst ein Till Lindemann als umgänglicher Papiertiger.

Till Lindemann, 52 Jahre alt, geboren in Leipzig, aufgewachsen bei Schwerin, Mutter Kulturjournalistin, Vater Kinderbuchautor, erste lyrische Gehversuche im Alter von neun Jahren, ist der einzige aktuell international relevante deutsche Popstar. In den USA ist der Frontmann von Rammstein mindestens so bekannt wie Heidi Klum. Vielleicht sogar bekannter. Einige finden, er sieht besser aus.

Allerdings gibt es auch Menschen, die das Schaffen von Lindemann für verabscheuungswürdiger halten als die zynische Show, die Klum im Fernsehen moderiert. Aber das ist womöglich ein Missverständnis. Denn wenn die Öffentlichkeit Till Lindemann sieht, dann sieht sie einen nackten, muskelbepackten, in seiner Jugend als Leistungsschwimmer gestählten Oberkörper, der im Stechschritt über die Bühne getragen wird, während um ihn herum ein irrwitziges Pyrospektakel leuchtet. Sie sieht einen schweißüberströmten Berserker von knapp zwei Metern, dem der Philosoph Slavoj Žižek bescheinigt, „auf obszöne Weise die faschistische Utopie zu sabotieren“. Wenn Peter Tägtgren Till Lindemann sieht, dann allerdings sieht er „einen sensiblen Typen, der trotzdem Spaß haben will“, und einen „großartigen Dichter, der Gefühle auf den Punkt bringen kann wie kaum ein zweiter“.

Alles autobiografisch?
 

Im Zweifelsfall sollte man Peter Tägtgren vertrauen. Er ist dichter dran als Musikerkollege, Saufkumpan, Freund und nun Kooperationspartner auf „Skills in Pills“. Lindemanns erstes Album ohne Rammstein ergänzt die Metal-Riffs der Stammband mit einer Dosis Gothic-Düsternis und wird veröffentlicht unter seinem Nachnamen. Nicht nur deshalb darf es als erster Versuch gelten, dem festzementierten Image des 90-Kilo-Mannes neue Nuancen hinzuzufügen. Der Schwede Tägtgren fühlt sich berufen, Deutschland seinen ebenso umstrittenen wie erfolgreichen Kulturbotschafter zu erklären: „Wie ich das sehe, kann Till problemlos für zehn Lieder in zehn verschiedene Charaktere schlüpfen. Damit kommen einige nicht klar.“

Damit rührt Tägtgren an den Kern des Problems. Dass Werk und Werkurheber nicht notgedrungen identisch sind, an diesem Konzept verzweifeln viele. Dass Lindemann und Rammstein auf der Bühne ein Rollenspiel aufführen, dass er als Dichter nicht unbedingt von sich selbst erzählt, sondern Licht in die dunkelsten Niederungen der menschlichen Psyche bringt, das irritiert weiterhin.

Den Irritierten weiterzuhelfen, das allerdings verweigert der Urheber der Irritation, so umgänglich er sich sonst gibt. „Ich soll meine Texte immer analysieren“, sagt Lindemann beim Interview im heimatlichen Berlin, dann hebt sich der gewaltige Brustkorb ein gutes Stück und der große Mann sinkt leise seufzend auf seinem Stuhl in sich zusammen, „aber in Wirklichkeit denke ich gar nicht so viel darüber nach.“

Jetzt singt er auf Englisch
 

Das tun andere umso ausführlicher. Seit Rammstein Mitte der neunziger Jahre auf der Bildfläche erschienen sind, gründet ihr erstaunlicher Erfolg vor allem darauf, dass sie das Klischeebild vom bösen Deutschen mehrfach ironisch gebrochen in die Welt tragen. Wenn Lindemann nun zusammen mit Kumpel Tägtgren erstmals englische Texte schreibt und singt, dann, sagt er, „will ich auch weg von den Rammstein-Erwartungen“. Allerdings gibt er ein Alleinstellungsmerkmal auf, das nicht zuletzt zum internationalen Erfolg von Rammstein geführt hat. Jetzt verstehen die Amis, was sie da mitgegrölt haben, während sie auf den Feuerschein einer explodierenden Bühne starrten.

Auf „Skills in Pills“ singt Lindemann in einer ihm fremden Sprache von altbekannten Sujets, von Schmerzen, von Kreaturen, die aus Löchern kriechen, und immer wieder von Sex, der, sagt Lindemann, „einzigen wahren Triebfeder des Menschen“, in allen, eben auch abseitigeren Spielarten. Diesmal rühmt er – das wird und soll wieder nicht allen gefallen – in „Golden Shower“ die Freuden des gezielten Harndrangs und singt mit „Fat“ ein Loblied auf die Erotik der Leibesfülle.

Allerdings wird im Englischen, vielleicht weil Lindemann nicht mehr zurückgreifen kann auf jenes antiquierte Deutsch, mit dem er seine Rammstein-Texte verfremdet, umso deutlicher, welch humanistischer Humor seinen Reimen innewohnt. Lindemann ist ein Menschenfreund, dem nichts Menschliches fremd ist. Doch an das allzu Menschliche ihrer Existenz werden die Menschen einerseits nicht gern erinnert. Andererseits mögen sie den Grusel angesichts ihrer eigenen Abgründe. Und dabei hält uns der nette Herr Lindemann gern die Hand.

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