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Systemfrage - Der linke Antikapitalismus ist intellektuell unscharf

Linker Antikapitalismus ist gerade sehr en vogue. Er hat jedoch – zwischen David Graeber, Sahra Wagenknecht, Dietmar Dath und Frank Schirrmacher – viele blinde Flecken. Die Linke versteht nichts von der Macht, die sie kritisiert

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Händler, Ernst-Wilhelm

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Nach Ansicht der Linken ist der Kapitalismus am Ende, moralisch bankrott und funktioniert nicht mehr. Dabei sind die Linken traditionell zersplittert in ihrem Bestreben, ihn abzuschaffen und durch etwas anderes zu ersetzen. Aber in jüngster Zeit gibt es doch etwas, worauf sich die unterschiedlichsten linken Strömungen einigen können: die Analyse des kapitalistischen Ist-Zustands durch David Graebers „Schulden – Die ersten 5000 Jahre“. Dieses durchaus mittelmäßige Buch dient als neue Bibel des linken Antikapitalismus.

Die Funktion des Geldes besteht bei Graeber darin, Unterordnungsverhältnisse zu schaffen. Der Gläubiger hat die Macht, und er gebraucht sie, um den Schuldner zu einem bestimmten Verhalten zu zwingen. ­Graebers Leitgedanke ist die Verschränkung von finanziellen Schuldverhältnissen mit individueller und kollektiver Gewalt. Er formuliert: „Kapitalismus … ist grundsätzlich ein System von Macht und Ausschluss.“ Diese Beschreibung trifft zu, gilt aber keineswegs ausschließlich für den Kapitalismus, wie ­Graeber behauptet. In jeder dauerhaften Gesellschaftsform, die der Planet bisher gesehen hat, gibt es Mitglieder mit mehr und solche mit weniger Macht. Die illiteraten Gesellschaften am Anfang der Menschheitsgeschichte waren in hohem Maß durch situativen physischen Zwang reguliert. Der Stärkste hatte das Sagen und machte von seiner Stärke Gebrauch. Die Geldbeziehungen emanzipierten den Menschen auch von der Anwendung kurzsichtiger, unmittelbarer körperlicher Gewalt. Geld erschloss von Beginn an individuelle Freiheitsräume. Pasion etwa, von 400 v. Chr. bis zu seinem Tod 370 v. Chr. der bekannteste Bankier Athens, war ein freigelassener Sklave. Diese Freiheitskarriere kommt in „Schulden“ nicht vor.

Das Buch „Der Implex. Sozialer Fortschritt: Geschichte und Idee “ von Dietmar Dath und Barbara Kirchner trifft sich mit „Schulden“ in der Betonung der Unfreiheit. Die Gesellschaft besteht nach Auffassung der Autoren aus zwei Klassen. Eine kleine Minderheit von Besitzenden verfügt über die Güter, mit denen andere Güter erzeugt werden können, Grund und Boden sowie Hardware-Technologie. Die große Mehrheit der Nichtbesitzenden hat nur ihre Arbeitskraft. Allein Besitz verleiht Macht und Unabhängigkeit. Nichtbesitz ist gleichbedeutend mit Ohnmacht.

Diese klassische marxistische Analyse ist jedoch unbedingt zu ergänzen um den im linken Antikapitalismus oft ausgesparten Faktor Information. Software, Patente und andere Rechtstitel, überhaupt Know-how, stellen ebenfalls Produktionsmittel dar, mit denen Gewinne erzielt werden können. Mit dieser unerlässlichen Anpassung stimmt die Behauptung: Die Mitglieder der Klasse der Besitzenden verfügen über mehr Möglichkeiten als die Mitglieder der Klasse der Nichtbesitzenden.

Aber welchen Nutzen bringt denn diese Begrifflichkeit? Gar nicht selten lassen sich die besitzende und die nichtbesitzende Klasse nur mit erheblicher Willkür abgrenzen. Im Manchester-Kapitalismus war klar, wem die Fabrik gehörte. In unserem Jahrhundert investiert eine Venture-Capital-Gesellschaft in 20 Start-ups. Es gehört zum Geschäftsmodell, dass 18 Firmen nach zwei Jahren liquidiert werden, zwei Firmen dafür jedoch explosionsartig wachsen. Welche Gründer gehören zum Zeitpunkt der Investition zu den Besitzenden? Der technische Fortschritt sorgt dafür, dass ständig neue, profitable Firmen entstehen und alte Firmen unprofitabel werden. Aus Nichtbesitzenden werden Besitzende, aber es werden auch Besitzende zu Nichtbesitzenden.

Die Gleichung „Mehr Besitz gleich mehr Macht“ stimmt nicht automatisch. Der Halter eines Aktienpakets an einer Publikumsgesellschaft hat keinen Einfluss auf den Geschäftsgang, wenn sein Anteil unterhalb einer Sperrminorität liegt. Der angestellte Manager der Publikumsgesellschaft besitzt ungleich mehr Macht als der Aktionär, auch wenn er kein Vermögen aufbaut, sondern nur teure Autos kauft.

Die Linke hat einen unfruchtbaren Begriff von Gesellschaft. Sie konstruiert das Verhältnis von Gesellschaft und Einzelnen als Beziehung zwischen einem Ganzen und dessen Teilen. Die Gesellschaft wird lediglich als die Summe der Einzelmenschen gedacht. Diese reduktionistische Vorstellung wird mit einer ungeeigneten Konzeption von Kausalität kombiniert. Die Gesellschaft soll kausal geschlossen sein in dem Sinn, dass sich alle gesellschaftlichen Phänomene als Wirkungen zurechenbarer Handlungen von Einzelnen ergeben. Dabei ist die Annahme der kausalen Geschlossenheit keine Hypothese, die durch Erfahrung widerlegt werden könnte, sondern eine Verfahrensregel.

Nach dem vermeintlichen Vorbild der Naturwissenschaften ist im linken Antikapitalismus eine Erklärung dann besonders sachhaltig, wenn kleine Ursachen große Wirkungen haben. Tatsächlich aber führt Reichtum allein weder zu Bedeutung noch zu Einfluss. Der Missbrauch des Gläubiger-Schuldner-Verhältnisses aus moralischer Sicht ist keine anthropologische Konstante. Die Aufklärung, die Ideale des Rechtstaats und der Menschenrechte haben viel dazu beigetragen, dieses ökonomische Verhältnis ethisch zu regulieren.

In der Gesellschaft handeln keineswegs nur Einzelne, sondern auch Zusammenschlüsse von Einzelnen wie etwa Firmen und Institutionen. Man kann von Netzwerken sprechen, zu denen nicht nur die Menschen, sondern auch Dinge – etwa Maschinen – und Ideen – etwa Programme – gehören. Die Linke vollzieht einen logischen Fehlschluss vom Sollen zum Sein. Gemäß westlichen Moralvorstellungen ist der Einzelmensch das mit Abstand wichtigste Element von oder für Gesellschaft. Aber deswegen muss die Gesellschaft nicht ausschließlich aus Einzelnen bestehen. So, wie die Linke es sich vorstellt, funktioniert Gesellschaftsanalyse nicht. Die Linke übersieht: Zusammenschlüsse von Einzelnen entwickeln grundsätzlich ein Eigenleben. Eine Institution und eine Firma sind immer mehr als die Summen ihrer Mitglieder. Das gilt auch für das Ganze der Gesellschaft. Sie ist immer mehr als der Wille der ökonomischen Elite.

Wo will die Linke hin? Graeber legt eine Maxime nahe: Schulden, die durch irgendeine Art von Zwang zustande gekommen sind, müssen nicht beglichen werden. Niemand hat jedoch bekanntlich die griechischen Regierungen gezwungen, Geld aufzunehmen, das der Staat nicht zurückzahlen kann. Wenn jemand eine Schuldenlast trägt, die ihm unter Zwang aufgebürdet wurde, dann ist es nach jeder ethischen Intuition gerecht, ihm die Schulden zu erlassen. Die Schulden, die die momentane Krise ausmachen, sind aber nicht unter Zwangsbedingungen zustande gekommen. Aus der historischen Analyse Grae­bers folgt nichts Wegweisendes für die Gegenwart, geschweige denn für die Zukunft des Kapitalismus.

Das Vakuum zwischen Ist- und Sollzustand der Gesellschaft wird gern auf krude Weise gefüllt. Modellhaft sind die Vorstellungen Sahra Wagenknechts. Egal, ob es eine besitzende Klasse gibt, die die ganze Macht hat oder nicht, man muss sie abschaffen. Das Mittel ist eine Erbschaftsteuer von 100 Prozent auf alles, was im Erbschaftsfall den Betrag von einer Million Euro übersteigt. Eine solche Regelung würde dazu führen, dass es keine ökonomischen Werte von über einer Million mehr gibt. Warum sollte ein Unternehmer eine Firma für zehn Millionen kaufen, wenn er weiß, dass die Firma sowieso, mit oder ohne Besitzwechsel, in ein paar Jahren an die Belegschaft oder an den Staat fällt – sofern sie weiterexistiert?

Mit seinem Buch „Ego“ hat auch Frank Schirrmacher um Aufnahme in den ziemlich großen Club der fundamentalen Kapitalismuskritiker angesucht, dafür jedoch als Mitherausgeber der FAZ einen exklusiven Mitgliedstatus erhalten. Die „informationskapitalistische“ Gesellschaft besteht bei ihm aus zwei Sorten von Akteuren: „Nummer 2“ soll der Nachfolger des bisher bekannten Einzelmenschen sein, die fleischgewordene Version von mathematischen Modellen wie demjenigen des Homo oeco­nomicus. Seine Analyse ist nicht mehr der Idee der kausalen Geschlossenheit der Gesellschaft verhaftet, lässt Raum für unvorhersehbare Ereignisse und führt so tatsächlich in die Zukunft.

Die Bestandteile der Gesellschaft aber sollen bei Schirrmacher immer Agenten sein, die nach Eigennutz streben. Der Eigennutz soll den Élan vital aller sozialen Konfigurationen bilden. Das ist empirisch nicht einzulösen. Der Mensch ist nicht nur ein egoistisches, sondern auch ein altruistisches Wesen. Es kann keine Rede davon sein, dass man menschliches Verhalten nur dann in die Sprache der Mathematik übersetzen kann, wenn man von der Prämisse des Eigennutzes ausgeht.

Der Kapitalismus hat fundierte Kritik dringend nötig. Der demokratisch verfasste Kapitalismus westlicher Ausprägung weist der Entfaltung aller Einzelmenschen einen sehr hohen Stellenwert zu. Was die Verwirklichung dieses Zieles angeht, genügt er allerdings seinen eigenen Maßstäben nicht. Ein Kapitalismus, der sich nicht selbst destabilisieren will, muss massiv in Regeln und Anreize investieren, die rücksichtsloses Verhalten begrenzen.

Die Voraussetzung für wirksame Regulierungen ist eine adäquate Erfassung der tatsächlichen gesellschaftlichen Wirkungszusammenhänge. Theoretische Machtanalysen gibt es, von Foucault bis Luhmann, im Überangebot. Was jetzt nottut, sind empirische Machtanalysen: Welche Elemente der Gesellschaft haben in der Gegenwart aufgrund welcher Voraussetzungen welche Macht, nach welchen Maßgaben handhaben sie diese? Wie können diese Maßgaben nach den erlebten Auswüchsen verändert werden? Intellektuell unscharfe Pauschalkritik am Geld und Verschwörungstheorien, die alle Macht bei einer kleinen, geschlossenen Gruppe von Vermögenden sehen, sind nicht hilfreich. 

Ernst-Wilhelm Händler ist Schriftsteller. Soeben erschien sein Roman „Der ­Überlebende“ (S. Fischer).

 

 

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