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Statistikwahn - Die Vermessung der Fußballwelt

Auf dem Fußballplatz ist der gläserne Mensch längst Realität. Pässe, Schüsse, Läufe: alles wird gezählt und soll den Erfolg messbar machen

Autoreninfo

Timo Stein lebt und schreibt in Berlin. Er war von 2011 bis 2016 Redakteur bei Cicero.

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Vergessen Sie Big Data, NSA oder Google. Prism liegt längst auf dem Platz. Auf dem Fußballplatz. Nirgends in der westlichen Welt ist der Mensch so gläsern wie auf dem Spielfeld. Der totale Profi ist Realität. Alles ganz legal. Der dauerdurchleuchtete Markenindividualist hat seinen Platz in der vielleicht säkularsten Institution des Okzidents: im Mikrokosmos Fußball.

Man stelle sich einen Job vor, bei dem so ziemlich alles Zählbare in unmittelbaren Datenhäppchen der Welt zur Verfügung gestellt wird. Eine Tätigkeit, über die jeder, wirklich jeder, frei Haus zur Interpretation des Geleisteten ansetzen darf. Im Fußball Alltag. Die Rahmenbedingungen des Profifußballers auf den Beruf des Journalisten übertragen, hieße:

Journalist XY kommt gerade einmal auf 16 Anschläge die Minute. Er gönnt sich zu viele Ruhepausen und führt zu wenige Telefonate. Das Zweikampfverhalten mau. Laufleistung Fehlanzeige. Eine Haarprobe offenbart, dass XY bei Recherchen auf Ibiza nicht nur das politische System studiert hat. Im Boulevard muss sich XY als Versager beschimpfen lassen. Kopfnote 5. Umtriebige Leser-Reporter filmen XY beim heimischen Streit mit der Siamkatze Susi. Empörte Abonnenten veranstalten eine Sitzblockade vor den Redaktionsräumen...

Von Laktat bis Laufstrecke: der gläserne Profi


Professionalität im Fußball meint vor allem: Der Profi hat transparent zu sein. Bis zu 30 Kameras spähen bei einem populären Livespiel jeden Winkel des nach FIFA-Norm 7.140 Quadratmeter großen Spielfeldes aus. Hochgeschwindigkeitskameras liefern hochauflösende Bilder. Hinzu kommen fest positionierte Kameras, Handkameras, sendereigene Kameras und Interviewkameras, die Gestik und Mimik der Profis auch jenseits der Seitenauslinie archivieren.

Auch das Innere der Profis wird gescannt: Mittels modernster Leistungsdiagnostik werden die Fitnesswerte der Spieler ermittelt. Hat Spieler X während seines Urlaubes seine Fitness vernachlässigt, wird ihn ein Laktattest der Faulheit überführen.

Einmal auf dem Platz, in Ausübung des eigentlichen Sports, wird die Überwachung dann total. Im Profifußball gilt längst der Grundsatz: Es wird gemessen, was messbar ist: Pass- und Zweikampfquote, Geschwindigkeit, Anzahl der Sprints, Laufstrecke, Laufwege, Flanken, Kopfbälle etc.

Gegenwärtig ganz oben auf der Beliebtheitsskala datenwütiger Fußballberichterstatter: Kilometerzahl und Passquote. Sie werden wie selbstverständlich herangezogen, um die Tauglichkeit oder Nichttauglichkeit eines Spielers zu verifizieren. Als ließe sich ein Mannschaftssport, ein von unzähligen Variablen bestimmtes Spiel, mittels weniger isolierter am Individuum gemessener Daten ablesen.

Der Wunsch, Leistung und damit Erfolg messbar zu machen, ist nicht neu. Überall und zu jeder Zeit war und ist der Mensch bemüht, Fortschritt zu berechnen und in eine Formel mit möglichst wenig Variablen zu gießen. Neu sind die Systeme und Techniken der Datenerhebung. Vereine investieren immer mehr in ihre Spielanalyseabteilungen, setzen neben klassischer Videoanalyse auch vermehrt auf datenbasierte Computeranalysen.  

Datenrevolution im Fußball


Vereine, Verbände und Sportredaktionen greifen dabei auf Firmen wie Opta, Stats oder Impire zurück, die die statistischen Daten und Analyseprogramme liefern. Die DFL beispielsweise hat die Lizenzen zur Erhebung der offiziellen Spieldaten bis 2017 an die Unternehmen Opta und Hego Trac vergeben. Opta, die unter anderem den Sender Sky, das ZDF, den Kicker oder Vereine wie Bayern München oder Werder Bremen mit Statistik beliefert, wirbt damit, in Echtzeit vollständige, mit Zeitstempel versehene, kontextbezogene Daten erheben zu können. Zwischen 1600 und 2000 einzelne Aktionen können in jedem Spiel erfasst werden. Drei Analysten schauen sich in der Regel ein Spiel an und zeichnen die Daten auf. Randnotiz: Der Geschäftsführer des sportlichen Datensammelunternehmens arbeitete ehemals als Projektmanager bei Big Brother.

Letztlich aber bleiben es schnöde Zahlen. Wie bei jeder Empirie braucht es Menschen, die diese Daten auch lesen können. In Sportredaktionen gibt es sie, keine Frage. Und gibt es sie nicht, auch keine Frage. Beispiel Messi. Der argentinische Ausnahmefußballer des FC Barcelona wurde jüngst zum Schuldigen für die Niederlage im Champions-League-Viertelfinale erklärt, weil er beispielsweise nur 6,8 Kilometer und damit nur 1500 Meter mehr lief, als der eigene Torwart. Der wahrscheinlich beste Spieler dieses Jahrzehnts muss sich aufgrund schlechter „Werte“ dem Zahlendiktat medialer Gerichtsbarkeiten unterwerfen. Allzu leichtfertig werden Fehler individualisiert. Eine Tendenz, die der Fußball sicher nicht exklusiv hat.

Und was macht eigentlich die Dauerdurchleuchtung mit den Ballakteuren, die wissen, dass sie an Zahlen und Prozentwerten gemessen werden? Dass die Zahl der zurückgelegten Kilometer, die Ballkontakte und Sprints zum Diskussionsgegenstand nach Spielende werden? Laufen und verausgaben sie sich womöglich mehr, um objektiv bessere „Werte“ zu bekommen? Mit möglicherweise negativen Folgen für ihr individuelles Spiel? Und inwieweit beeinflussen diese Zahlen die Trainer bei der Beurteilung und Wahl ihrer Aufstellung? Und wie die Manager bei den Spielertransfers?

Die pionierhaft-naive Gründermentalität in der Fußballberichterstattung


Der vermehrte Rückgriff auf Daten, Zahlen und Statistiken von Vereinsseite wie aus medialer Sicht ist Folge einer zunehmenden Fokussierung auf Strategie und Taktik. Lange Zeit waren sie stiefmütterliche Größen im deutschen Fußball. Fußballdeutschland war in Sachen Taktik so etwas wie die verspätete Nation. Taktikentwicklungsland. Dort, wo der Dreisatz „Tugend, beißen, Grätsche“ herrschte, bekommen taktische Elemente mittlerweile einen immer größeren Stellenwert. Trainerfüchse wie Louis Van Gaal (Positionsspiel), Thomas Schaaf (Raute), Lucien Favre (Polyvalenz) haben die Taktikrevolution schleichend in Gang gesetzt. Und mit Pep Guardiola, der sich erst so richtig über ein Spiel freut, wenn der Gegner währenddessen dreimal das System ändert (geschehen gegen Mainz 05), hat das strategische Element endgültig Einzug erhalten.

Medial interessant wurde der strategische Blick auf das Spiel während der WM 2006, als Jürgen Klopp im ZDF via Touchpad am Taktik-Tisch und mit bunten Pfeilen der Nation das Spiel erklärte. Doch wie es so ist mit verspäteten Nationen: Einmal angekommen, überdrehen sie. Mit pionierhaft-naiver Gründermentalität wird heute in der Fußballberichterstattung alles bepfeilt und vermessen, was auch nur im Entferntesten zählbar ist. Der bei torlosen Partien gängige Kommentatorengemeinplatz, nachdem nichts Zählbares herausgekommen sei, trifft heute auf ein Kommentatorenmantra, bei dem alles zählbar scheint.

Einsame Tänzer auf dem Rasen


Im schlimmsten Fall ist dann plötzlich alles irgendwie taktisch. Langweilige Spiele werden uns dann kommentatorenfachgerecht als „taktisch auf höchsten Niveau“ verkauft und seien nur etwas für echte Genießer. Die Hilflosigkeit der Kommentatoren verbalisiert sich dann in einer Art Heimlichkeits-Chiffre unter sich bleibender Kenner. Wie bei guter Literatur: Wenn Sie sie nicht verstehen, muss es wohl an Ihnen liegen.

Die datenbasierte Individualisierung des Mannschaftssports Fußball, jenseits der bereits professionalisierten Vermarktung einzelner Spieler, steht erst am Anfang. Bereits in den 1970er Jahren aber visualisierte der Filmemacher Hellmuth Costard die Paradoxie einer zunehmenden Subjektfixierung. Im Film „Fußball wie noch nie“ ließ er die Kameras während eines Spiels (Manchester United gegen Coventry City) allein auf den damaligen Superstar George Best richten. 2006 wurde dieser Ansatz im Experimentalfilm „Zidane: A 21st Century Portrait“ erneut aufgegriffen.

Die Kameras zeigen ausschließlich Zinedine Zidane. Zeigen, wie er läuft, trabt, schwitzt, pausiert und wieder läuft. Wie er sich innerhalb eines Raumes orientiert, den der Zuschauer nicht zu Gesicht bekommt. Das Äußere, der Raum, das Spiel an sich, wird vom Betrachter als flüchtiger Ballkontakt, als flüchtiger Eindringling in den Zidane’schen Kosmos wahrgenommen. Zidane wird zum einsamen Tänzer. Zum melancholisch dreinblickenden Individualisten, der wie verbindungslos über den Platz schleicht. Die Individualisierung wird total. Zidane aber bekommt am Ende die rote Karte und wird des Platzes verwiesen. Er muss die Mannschaft verlassen, der er visuell doch nie angehörte. Und ist dann wirklich nur mit sich. Ohne Raum und ohne Ball. Allein.

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