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Wladimir Kaminer - Wie die Russen zu Sex-Deppen wurden

Cicero Klassiker: Zum zehnjährigen Jubiläum präsentieren wir Ihnen zehn großartige und zeitlose Texte aus zehn Jahren. Heute aus dem Februar 2006. Während des Kalten Krieges gab es auch immer wieder Friedensbemühungen. Eine davon war die Livesendung „Telebrücke“, die Sowjets und Amerikaner einander näher bringen sollte. Die Aussage einer Russin blamierte damals die gesamte Sowjetunion

Autoreninfo

Wladimir Kaminer ist Schriftsteller. Er wurde in Moskau geboren und lebt in Berlin. Zuletzt erschienen „Küche totalitär. Das Kochbuch des Sozialismus“ und „Karaoke“(Goldmann).

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In den frühen achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts war die Welt noch unerforscht und voller weißer Flecken. Nur wenige Auserwählte durften sie bereisen, um anderen Kulturen persönlich zu begegnen, der Rest war auf die regionale Presse und das Fernsehen angewiesen. Die Medien jedoch erzeugten vor allem Klischees: Auf der einen Halbkugel wohnten die Amerikaner, sie trugen komische Frisuren, tranken Wiskey und tanzten Rock’n’Roll. Auf der anderen Seite wohnten die Russen, sie trugen Pelzmützen, tranken Wodka und tanzten Kasatschok. Beide Teile waren nicht gut aufeinander zu sprechen und hatten deswegen ihre Länder mit Bomben und Raketen gespickt, um jederzeit sich selbst und die anderen in die Luft sprengen zu können.

Trotzdem gab es auf beiden Seiten immer wieder Versuche, die Menschen der beiden Halbkugeln einander näher zu bringen. „Citizen Diplomacy“ nannte sich das im Westen. 1982 kam ein Mann namens Steve, der spätere Mitgründer des Computerkonzerns „Apple“, auf die Idee, Russen und Amerikaner in einer Fernsehsendung live miteinander reden zu lassen. Er stellte Leinwände auf, groß wie Wohnhäuser, und organisierte die Fernsehübertragung durch Satelliten.

Amerikaner und Russen konnten live miteinander reden


Seine Idee bekam den Namen Telebrücke und wurde auf beiden Seiten der ideologischen Mauer von den politischen Eliten mit Respekt aufgenommen. Der Kalte Krieg war inzwischen allen auf die Nerven gegangen, man suchte nach alternativen Lösungen. Am 5. September 1982 fand die erste und gleichzeitig letzte Telebrücke statt. Zum ersten Mal hatten die Russen und die Amerikaner Gelegenheit, außerparlamentarisch direkt miteinander zu sprechen. Beide Seiten bereiteten sich gut auf dieses Ereignis vor. Im Glen Helen Park von Los Angeles versammelten sich 250 000 amerikanische Jugendliche, um die sowjetische Öffentlichkeit mit Fragen zu bestürmen – zu vermuten stand, dass sich auch einige CIA-Agenten darunter mischen würden, um die Russen mit hinterhältigen Fragen platt zu machen. Aber die Russen waren auch nicht dumm. Sie hatten in einem Moskauer Fernsehstudio eine komplette sozialistische Arche Noah versammelt: Männer, Frauen, Kinder, Arbeiter und Bauern, Künstler, Intellektuelle, ein paar Gäste aus den Bruderrepubliken und dazu noch zwei sozialistische Rockbands mit so lustigen unpolitischen Namen wie „Der Sonntag“ und „Die Blumen“.

Trotz perfekter Vorbereitung ging einiges schief bei der Telebrücke, so wie immer, wenn modernste Technik zum ersten Mal zum Einsatz kommt. Die Fragen und Antworten waren nur zeitversetzt zu hören, außerdem mussten sie ständig hin und her übersetzt werden, und bald verstand keiner mehr den anderen. Was erschwerend hinzukam: Die amerikanischen Jugendlichen saßen lässig im Park bei Sonnenuntergang, in Russland dagegen war es erst sechs Uhr morgens. Und verständlicherweise hatten meine Landsleute gewisse Schwierigkeiten, sich um diese Zeit schon auf die Völkerverständigung zu konzentrieren.

Gequält lächelnd und angespannt locker saßen sie im Studio, wie Geiseln, die von unsichtbaren Terroristen bedroht werden, nach außen hin zeigen, dass es ihnen gut geht. Die zivile Kleidung passte nicht zu den Frisuren der Männer, die Frauen trugen dagegen zu viel Schminke im Gesicht.

Trotz der frühen Stunde klebten Millionen in Russland an der Glotze, die Sendung war eine kleine Sensation. Das Gespräch jedoch kam nicht wirklich voran. Die erfolgreichen Ernten und die Fortschritte im Maschinenbau interessierten die amerikanischen Freunde nicht, stattdessen gingen sie lieber gleich zur Sache. Ein großer Blonder in einem Holzfällerhemd wollte wissen, wie es mit dem Sex in der Sowjetunion sei. Unsere Antwort auf diese delikate Frage – eine mollige Dame mit einer komplizierten Frisur – verhaspelte sich im entscheidenden Moment auch noch. Eigentlich hatte sie dem Amerikaner sagen wollen, dass bei uns kein Sex im Fernsehen gezeigt werde, schaffte aber nur den halben Satz: „Bei uns in der Sowjetunion gibt es keinen Sex – äh… hm-hm…“ Der Rest ging im Gekicher der Amerikaner unter.

So gewannen die Amerikaner die Telebrücke


„Das glaube ich euch nicht!“, blaffte der Holzfäller durchs All, „ihr seid doch auch alle irgendwie auf die Welt gekommen!“ Die ganze Belegschaft des Glen Helen Parks fing an zu lachen. Es gab keinen Sex im Sozialismus! Das war wirklich eine Neuigkeit! So gelang es den Amerikanern noch einmal, die Überlegenheit ihres Systems deutlich vorzuführen – sie gewannen die Telebrücke.

Und die Dame mit der komplizierten Frisur hatte ihre Landsleute mit Hilfe der modernsten Kommunikationsmittel für immer zu Sex-Deppen abgestempelt. Sie ahnen es schon: Selbstverständlich gab es in der Sowjetunion jede Menge Sex, überall und rund um die Uhr. Es gab Gruppensex und Sex allein, es gab Sex im Kosmos und in der Landwirtschaft, zu Hause und bei der Arbeit, im Sitzen und im Stehen. Nur eben nicht im Fernsehen.

 

 

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