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Illustration: Jan Rieckhoff

Sonntagabend-Droge - Warum der Tatort glücklich macht

Sie meinen, Homeland, Breaking Bad und Sopranos sind feuilletonistische Avantgarde? Pah. Der hiesige Krimi war schon lange da – und wird es bleiben. Zu Recht

Autoreninfo

Marie Amrhein ist freie Journalistin und lebt mit Töchtern und Mann in der Lüneburger Heide.

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Auf Süchte reagieren die Menschen unterschiedlich. Die einen machen ihre Vergangenheit, Eltern, Freunde oder die Droge selbst für den eigenen Verfall verantwortlich. Die anderen verklären ihr Verhalten und das dazugehörige Rauschgift. Ich gehöre eher zur zweiten Sorte. Süchtige wie mich finden sich in der Bundesrepublik zuhauf.  Wir schnüffeln keinen Plastikklebstoff oder rauchen Crack wie die Amis. Nein. Wir sind krimibesessen. Einschaltquoten und die Reaktionen der Programmdirektoren lassen keinen anderen Schluss zu: Die Lage ist ernst.

Die Befindlichkeit der Krimi-Nation lässt sich denn auch allwöchentlich an den Kommentaren zum vergangenen Sonntagabendtatort ablesen. In dieser Woche gab es neben dem Tatort-Lamento des Kollegen Alexander Kissler über die „miesen Drehbücher“ gleich noch eine Abrechnung des Schelmenkolumnisten Alberich bei Cicero Online. Der mordsverkaterte Wutausbruch im Netz folgt auf den sonntäglichen Abendfilm so sicher wie der Montagabendkrimi im ZDF.

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Aber wenn um 20.15 im Ersten, Zweiten oder Dritten alles so schlimm ist, warum wird dann hingeguckt? 20 Prozent der Deutschen schauen „häufig den Tatort“, heißt es beim Statistischen Bundesamt. Sind das alles Idioten? Ja, der Thüringer vom vergangenen Wochenende war schlecht. Ja, er war auch nicht der einzige, der schlecht war. Aber der Tatort – ein „saturiertes Format“, wie Kissler schreibt? Ganz im Gegenteil. Nirgends wird innerhalb der Grenzen des Profils so viel ausgelotet. Nur wir echten Krimifans verzeihen fehlgeschlagene Experimente so großherzig, dass wir nächste Woche wieder einschalten. Eben weil wir uns auf eine strikte Ordnung verlassen können, in der alles geschehen kann, aber nichts muss.

Für die Quote gibt es Til Schweiger, für die Intellektuellen Dominik Graf


Der Krimi ist, anders als vielerorts propagiert, mutig – und er ist mächtig. Man holt Theatergrößen von der Bühne hinter die Kamera. Ulrich Tukur, als Tatort-Ermittler Felix Murot durch einen Gehirntumor gezeichnet, wabert zwischen Realität und Fiktion. Matthias Brandt, dessen Charakter sich dadurch auszeichnet, dass er keine Eigenschaften aufweist. Charly Hübner, der als Kommissar im Polizeiruf am Rande der Legalität hantiert. Der Kriminalfilm kann Kintopp sein, Kammerspiel oder Komödie. Beim Krimiformat macht man sich die Mühe, up to date zu bleiben. Selbst das als verschnarcht verschriene ZDF beweist mit Charakteren wie Sophie Haas in „Mord mit Aussicht“ oder dem neuen Billig-Detektiv Finn Zehender Humor und Feingeist.

Natürlich liefern die öffentlich-rechtlichen Anstalten bei all dem Gebührenpoker, Postengeschacher, Eitelkeiten und Fehlentscheidungen inklusive. Dass sie die Saarländer Maximilian Brückner und Gregor Weber abgesägt haben – eine Frechheit. Aber was bekommen wir dafür? Einen Kommissar Devid Striesow, der kiffend auf einem Motorrad die Weltenrettung in Angriff nimmt. Dass Til Schweiger als Nick Tschiller bei den Gelehrten schlecht abschneidet, immer aber die besten Zuschauerergebnisse einfährt, ist kein Geheimnis. Der Tatort ist für alle da. Dafür hatten wir Intellektuellen einige Wochen zuvor einen experimentellen Dominik Graf, nicht wahr?

„Der Tatort ist das letzte kollektive Erlebnis, das die bundesrepublikanische Gesellschaft regelmäßig erreicht“ konstatiert denn auch Stefan Scherer, Literaturprofessor aus Karlsruhe. Er hat 500 Tatortfolgen à 8 Stunden unter die Lupe genommen. Die Handlung, die Ermittler, Schnitt, Bild, Ton. 4000 Stunden Tatort – da kann man schon rammdösig werden.

Scherer wollte wissen, was die Deutschen so an ihrem Kriminalfilm lieben und kommt zu dem Schluss, dass sie hier Geborgenheit finden. Ja, der Tatort-Junkie kriecht wie die Maus zum Käse. Aber eine Droge, die nicht mehr wirkt, würde niemand mehr nehmen. Das Stück Geborgenheit, die Flucht vor den Mühen des Alltags, hier funktioniert sie. Und deswegen macht der Krimi glücklich. Übrigens in der Stadt wie auf dem Land. Das kann ich Ihnen sagen.

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