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(picture alliance) In ihrem neusten Roman schreibt Sofi Oksanen über Bulimie und den Preis der Schönheit

„Stalins Kühe“ - Scham, Bulimie und Paranoia – der Preis der Fabelhaftigkeit

Was kostet es, fabelhaft zu sein? Ein bisschen Scham, Bulimie und Paranoia. Eine Rezension des neusten Romans „Stalins Kühe“ der finnisch-estnischen Autorin Sofi Oksanen

An Anna ist alles fabelhaft. Mühelos isst sie den größten Mann unter den Tisch und bleibt dabei doch so zierlich, dass sie «in jedermanns Arme» passt. Ihre Kleider in der kleinsten Größe findet sie im Schlussverkauf und muss sie nicht einmal ändern. Außerdem ist sie so klug, dass die Lehrerin eigens für sie eine Notenskala einrichtet – eine Märchenprinzessin der finnischen Provinz.

Die Kehrseite der Medaille sind zwei bestens gehütete Geheimnisse: Annas Mutter ist Estin. Das ist zu Zeiten des Kalten Krieges in Finnland ein Synonym für «russische Nutte». Dabei ist sie Ingenieurin und mit einem Finnen verheiratet, der in Moskau andere Frauen aushält. Anna selbst zahlt einen Preis fürs Fabelhaftsein, sie dient einem unerbittlichen «Herrn». So nennt sie ihre Bulimanorexia, eine Kombination aus Ess-Brechsucht und Hungerperioden; mit der Inbrunst einer Nonne folgt sie bizarren Ritualen und Regeln. Natürlich behauptet sie, alles im Griff zu haben: Gymnastik, Vitaminpillen und ein minutiös austarierter «Esszirkus» aus Völlerei, Brechen und Fasten verhindern angeblich, dass sie wie andere Mädchen zur «KZ-Prinzessin » abmagert.

Die Ich-Erzählerin im neuen Roman der finnisch-estnischen Autorin Sofi Oksanen ist nicht einfach verkorkst und sprunghaft. Diesen Eindruck könnten die impressionistische Erzählweise und das oft willkürliche Mäandern zwischen der Partisanenzeit der Großeltern, der Brautzeit der Eltern und dem Alltag in der «typisch finnischen Kleinstadt» begünstigen. Diese junge Frau ist durchaus mit ironischer Beobachtungsgabe sowie scharfem Reflexionsvermögen ausgestattet, dessen blinde Flecke allerdings die Krankheit diktiert. Anna durchschaut deren Mechanismen, definiert sich aber bis zum Schluss ausschließlich über Gewichtskontrolle: «Die Zentimeter eines Frauenkörpers sind ebenso wichtig wie die Staatsgrenzen.» Sofi Oksanen gelingt sehr überzeugend die waghalsige Verschränkung von penibelster Kontrolle über die Körperfunktionen mit den unbeherrschbaren Umwälzungen, denen Annas Mutter und Großmutter im Laufe des 20. Jahrhunderts ausgesetzt sind. Dabei versucht sie gar nicht erst, die Parabel zu engmaschig zu stricken. Wiederkehrende Koordinaten in Annas oberflächlich behütet erscheinendem Leben sind Scham und Paranoia, Verrat und Verfolgung. Zur Verkörperung allgegenwärtigen Konsums wird die jedem Schönheitsideal trotzende russische Prostituierte – eine zwiespältige Ikone, die sich mit Annas Selbstbild bis in den Wortschatz hinein verflicht: «Schnell wurde ich im Erbrechen eine Professionelle.»

In einem preisgekrönten Theaterstück hat sich Sofi Oksanen zuerst mit weiblichen Lebenswegen während des kommunistischen Totalitarismus in Estland beschäftigt. Daraus entstand der in diverse Sprachen übersetzte, hochgelobte Roman «Fegefeuer». Nach «Stalins Kühe» stehen die Chancen gut, dass sie anderen Themen mit ähnlicher Intensität gewachsen ist.

Sofi Oksanen: „Stalins Kühe“, Roman, aus dem Finnischen von Angela Plöger, KiWi, Köln 2012. 496 S., 22,99 €

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