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(picture alliance) Radikale Transformation oder nur demokratische Ergänzung des Systems?

Parteienforschung - Sind die Piraten verkappte Postdemokraten?

Sind die Piraten eine Commonspartei oder Vorboten der Postdemokratie? Der Ende Mai erscheinende Sammelband „Unter Piraten“ nähert sich der jungen, erfolgreichen Partei aus wissenschaftlicher Perspektive. Mit teils gewagten Thesen

Was ist nicht alles schon über die Piratenpartei geschrieben worden. Mal wurde sie als Frischzellenkur der Demokratie gefeiert, mal wurde ihr vorgehalten, sie befördere eine „Tyrannei der Masse“. Mit ihrem 8,2-Prozent-Erfolg in Schleswig-Holstein sind die Piraten aus der politischen Landschaft bald nicht mehr wegzudenken. Wenn nichts dazwischenkommt, werden sie nach der Wahl in NRW in vier Landtagen sitzen.

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Doch welche politische Idee steht hinter dieser Bewegung? Wird ihr Transparenz-Ansatz das demokratische System verändern? Oder handelt es sich nur um ein Protestphänomen?

Diesen Fragen widmet sich der Sammelband „Unter Piraten“, herausgegeben von den Politikwissenschaftlern Christopher Bieber und Claus Leggewie. Erstmals wagen sich darin Publizisten und Forscher unterschiedlichster Disziplinen an eine fundierte Analyse. Auf dem Titel heißt es „Erkundungen in einer neuen politischen Arena“ – ein galantes Understatement. Denn auch, wenn es über die Piraten seit ihrem Erfolg im Berliner Landtag 2011 schon reichlich Literatur gibt, fiel bislang noch kein Buch so umfangreich aus.

Die Gliederung folgt der beliebten maritimen Metapher „Entern – Ändern – Neustart“. Da wird über den ästhetischen Wert der Farbe Orange sinniert, da wird das Piraten-Phänomen im Kontext der Occupy- und Tea-Party-Bewegungen analysiert.

Spannender noch die Fragen: Warum sind sich etablierte Parteien und Piraten so fremd? Warum rümpfen die Rebellen der 1968er, die sich mit den Grünen politisierten, so die Nase über die inhaltliche Leere der neuen Konkurrenten?

Aufschlussreich ist da der Aufsatz „Nerds. Computer. Piraten“ von Mathias Mertens. Seine Antwort lautet: Es ist der unhygienische, Hornbrille tragende, schon in der Schule ausgegrenzte Nerd. Seit den 70er Jahren geisterte dieses Klischee nicht nur durch US-Serien wie Happy Days oder The Big Bang Theory, sondern schwappte auch zu uns herüber. Pflegte der Nerd damals noch Hobbys wie Modelleisenbahnen oder altgriechische Lyrik, wurde später der Computer seine ideale Kompensationswelt.

Seite 2: Was den Grünen Wackersdorf und Gorleben war, war den Piraten „Zensursula“

Diese Welt kommt ohne Zugangsbeschränkung daher. Hier können sich die sozial Isolierten integrieren, sich jederzeit virtuell unter „ihresgleichen“ austauschen, hier gibt es für jede noch so bizarre Freizeitbeschäftigung Gleichgesinnte. Die frühere politische Geschäftsführerin Marina Weisband hat das, bevor sie sich aus gesundheitlichen Gründen aus dem Amt zurückzog, einmal Interview so beschrieben: „Diese Erfahrung, die das Internet ermöglicht hat, hat die Randgruppen der Gesellschaft sehr gestärkt.“

Natürlich kann man sich fragen, ob Mertens Aufsatz, der diese Stereotype beschreibt und kritisiert, nicht selbst dazu beiträgt, sie zu verfestigen. Längst ist die Piratenpartei kein ausschließlicher Club für langhaarige Streber mehr. Vielmehr hat sie sich geöffnet für verschiedene Schichten und Altersgruppen. Aber der Rückgriff auf das Klischee hilft zu erklären, warum die Piraten so vehement für die Freiheit im Netz streiten. Etwa 2009, da kämpften sie gegen die Netzsperren der damaligen Familienministerin Ursula von der Leyen. Was den Grünen Wackersdorf und Gorleben war, war den Piraten die „Zensursula“-Kampagne.

Ihre Freiheitsidee kreist immer um die Frage der „Netzneutralität“. Das heißt, Daten sollen unabhängig von ihrer Art und Herkunft im Internet gleichwertig behandelt werden. Der Blogger und Journalist Michael Seemann fasst das politische Denken der Piraten daher unter dem Begriff der „Plattformneutralität“. Er beschreibt den Versuch, die digitalen Forderungen der Piraten auf die Offline-Welt zu übertragen. Seemann definiert den Begriff so: „Plattformneutralität identifiziert die wichtigen Infrastrukturen, die gesellschaftlichen Austausch ermöglichen, und versucht ihren diskriminierungsfreien Zugang und Betrieb zu gewährleisten.“

Das wird deutlich, wenn man sich die politischen Forderungen der Piraten ansieht: seien es die Legalisierung von Drogen, der fahrscheinlose Nahverkehr, das Ausländerwahlrecht oder das bedingungslose Grundeinkommen. Das Links-Rechts-Schema hilft hier nicht weiter. Anders verhält es sich, wenn man diese Forderungen vom Blickwinkel der Plattformneutralität betrachtet: Der Staat als wichtigste „Plattform“ soll jedem einen egalitären Zugang zu den gesellschaftlichen Ressourcen gewährleisten.

Und diese Ressourcen, das erläutern Daniel Constein und Silke Helfrich in dem Aufsatz „Commons und Piraten“, verstehen die Piraten als „Gemein(schafts)güter“ oder „Allmende“. In dieser Logik wären also nicht nur Wasser, Land und Luft solche Güter, sondern auch der öffentliche Nahverkehr, Softwarepatente oder Kunstwerke. Die Autoren definieren Commons als Güter, die niemandem gehören, weil sie ererbt wurden, weil sie niemand individuell produziert hat oder weil sie der Allgemeinheit geschenkt wurden.

Seite 3: Streben die Piraten eine radikale Transformation der Demokratie an?

So verstehen die Piraten im Übrigen auch Kunst und Schrift. Denn ein jeder Urheber müsse „für die Schaffung eines Werkes auf den öffentlichen Schatz an Schöpfungen“ zurückgreifen, wie es im Parteiprogramm heißt. Deswegen sei die „Rückführung von Werken in den öffentlichen Raum“ – in anderen Worten, das Raubkopieren – „berechtigt“ und „von essentieller Wichtigkeit“. Ausgehend von diesem Gedanken argumentieren Constein und Helfrich, dass die Piraten auf dem Weg seien, eine „Commonspartei“ zu werden.

Diesem eher wohlwollenden Bild einer der Gesellschaft verpflichteten Partei setzt der Frankfurter Philosoph Frieder Vogelmann ein geradezu beängstigendes Szenario entgegen. Sein bemerkenswerter Ansatz widmet sich Weisbands Aussage, die Piraten hätten „nicht nur ein Programm anzubieten, sondern ein Betriebssystem“. Die Piraten liefern dieses System – und die Werkzeuge, um die Prozesse darauf zu gestalten, etwa die Abstimmungssoftware Liquid Feedback. Sie wollen kein Mehr an (Partei-)Programmen, sondern ein fundamental neues System, einen anderen Politikstil. Wie real diese Forderung ist, konnte man am Tag nach der Landtagswahl in Schleswig-Holstein beobachten: Dort sagte Spitzenkandidat Torge Schmidt etwa, das Modell der Koalitionen „alter Art“ sei überholt.

Vogelmann zufolge läuft das Politikbild der Piraten auf eine „radikale Transformation der demokratischen Machtausübung“ hinaus. Diese vollkommen transparente, „partizipative Technokratie“ gehe noch viel weiter als die direktdemokratischen Forderungen der Grünen je gingen. Es sei eine Demokratie, „deren Herrschaftsausübung zu jeder Zeit mit dem zählbaren Volkswillen übereinstimmt: eine totale Identität der Gesellschaft mit ihren Herrschaft ausübenden Institutionen.“ In der Politikforschung wird ein solches System mitunter als „Postdemokratie“ bezeichnet, in der staatliche Institutionen aufgebrochen und totale Sichtbarkeit hergestellt sind. Auch hierfür findet sich im Übrigen eine aktuelle Äußerung eines Piraten. So bezeichnete sich der Berliner Landeschef Hartmut Semken jüngst als Linksradikalen, weil er sich „eine rein moralisch definierte Gesellschaft“ wünsche, „in der es keine Gesetze mehr gibt, dann auch keine Polizei, keine Staatsanwaltschaft“.

Vogelmanns erschütterndes Fazit: Die Piratenpartei vervollständigt „die schon länger bestehenden postdemokratischen Tendenzen der Gegenwart zu einer politischen Rationalität“.

Die These, dass die Piraten eine vollständige Identität von Herrschern und Beherrschten anstrebten, ist provokant. Ob sie zutrifft oder nur abstrakte Theorie bleibt, daran wird sich die Partei, die sich selbst nur „dem Grundgesetz verpflichtet“ sieht, in der politischen Praxis messen lassen müssen.

Der Sammelband erscheint Ende Mai im Buchhandel.

Christoph Bieber und Claus Leggewie: Unter Piraten – Erkundungen in einer neuen politischen Arena, Transcript Verlag, 2012, 248 S., 19,80 Euro.

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