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(Berlinale) Die Frau hinter der Wand – „Niemand weiß, was für ein Wesen sie am Schluss ist“

Martina Gedeck in „Die Wand“ - „Sie ist froh, dass die Wand da ist“

Sie ist die Frau mit der besonderen Stimme – Martina Gedeck. Auf der Berlinale präsentierte sie ihren neuesten Film „Die Wand“ nach dem gleichnamigen Bestseller von Marlen Haushofer. Cicero Online sprach mit ihr über innere Grenzen, Zweifel und Ängste

Martina Gedeck spielt in „Die Wand“ – einer Verfilmung des gleichnamigen Romans von Marlen Haushofer – eine Frau, die durch eine unsichtbare Wand plötzlich von der Außenwelt abgetrennt wird. Sie ist allein mit sich und ihren Ängsten und wird vor die unausweichlichen Grundfragen des Lebens gestellt. Nach und nach richtet sie sich in ihrer neuen Welt ein, sie lernt, im Einklang mit der Natur zu leben und sich mit der einzigen Gesellschaft zu arrangieren, die ihr bleibt – ihren Tieren

Frau Gedeck, was ist die Wand für Sie? Welche Bedeutung hat sie?
Die Wand bedeutet, dass man nicht mehr in sein altes Leben zurück kann. Sie ist der Bruch mit dem bisherigen Leben.

Und die Wand hat eine doppelte Funktion: Sie schützt und hält gleichermaßen gefangen.
Ja, ich glaube, dass die Wand der Protagonistin die Möglichkeit gibt, sich neu zu verorten und sich im eigenen Raum anzusiedeln. Das ist für sie, aber im Grunde auch für jeden Menschen wichtig.

Täuscht der Eindruck, dass dieser plötzliche Verlust der Außenwelt für die Frau gar nicht so schlimm ist, wie es auf den ersten Blick scheint? Die Wand hält sie im Grunde doch auch irgendwie am Leben. Es scheint, als wolle sie diesen geschützten Raum gar nicht wirklich verlassen.
Ja. Sie ist eigentlich froh, dass die Wand da ist. Sie hat ihr bisheriges Leben als von sich selbst entfremdet empfunden. Sie sagt ja selbst, dass sie eigentlich nie in ihrem eigenen Leben angekommen ist. Sie ist fremdbestimmt, unglücklich. Hinter der Wand aber geht es ihr besser und besser, obwohl sie sich dort natürlich mit einem schweren und harten Leben konfrontiert sieht. Aber die Grundlagen werden besser: Sie fühlt sich identer mit sich, sie fühlt sich wohler. Am Schluss des Films sagt sie sogar, dass sie weiß, dass dies noch nicht das Ende ist. Das ist doch großartig, wenn man das sagen kann.

Der Film endet dann auch mit dem Beginn neuen Lebens: Die Kuh erwartet ein neues Kalb. Trotz aller Schwere senden Film und Buch am Ende ein leises, positives Signal des Aufbruchs.
Sie ist zunächst sehr traurig, weil sie weiß, ihre nach und nach sterbenden Tiere Perle, Luchs und Stier wird es nicht mehr geben. Sie weiß aber auch, dass etwas Neues heranwächst und sie sich diesem Neuen nicht entziehen kann und will. Und dann gibt es ja noch die weiße Krähe, die sie jeden Tag füttert. Die Krähe wartet jeden Tag auf sie. Es ist doch schön zu sehen, dass es immer jemanden gibt, der auf einen wartet.

Im Grunde durchzieht Film und Buch eine permanente Traurigkeit, die aber letztlich immer versöhnlich wirkt. Wie würden Sie die Grundstimmung beschreiben?
Es gibt so etwas wie eine Schwere, eine Last, die die Protagonistin trägt, tragen muss. Sie muss gegen Widrigkeiten ankämpfen und braucht alle Kraft, um das Notwendige für sich überhaupt sicher zu stellen. Und das heißt, dass das Leben hinter der Wand sie sehr viel Energie kostet. Es gibt wenige leichte Momente. Sie ist permanent damit beschäftigt, für sich und die Tiere zu sorgen.

Lesen Sie auf der zweiten Seite, was Martina Gedeck speziell an dieser Rolle gereizt hat

Was hat Sie persönlich an speziell dieser Rolle gereizt?
Die Rolle hat mich sehr erfüllt. Ich hatte das Gefühl, dass wir eine Geschichte erzählen, die viele Menschen berühren könnte. Die Geschichte zeigt eine Frau, die zweifelt, die Angst hat. Eine Frau, die letztlich alles mit sich selber ausmachen muss.

Kennen Sie dieses Gefühl auch?
Das kennt im Grunde doch jeder Mensch. In vielen Situationen muss man sich selber helfen. Zu sehen, dass das jemandem gelingt, dass jemand kämpft mit sich und der Welt, das ist etwas sehr Wichtiges.[gallery:Die Berlinale-Highlights]

Die Protagonistin ist nahezu komplett der Natur ausgeliefert. In der Literatur wurde das immer wieder als radikale Zivilisationskritik ausgelegt. Das Buch wurde seinerzeit extrem politisiert. Aber trifft nicht im Grunde genau das Gegenteil zu? Im Grunde war die Heldin ja nie wirklich eingebunden in die Zivilisation. Geht es daher nicht eher um den Kampf eines Einzelnen mit sich selbst? Ein Kampf, der allein im Innern stattfindet?
Ich denke auch, dass Haushofers Geschichte nicht einfach auf äußere Dinge übertragen werden kann. Ich glaube, alle Interpretationen, die das versuchen, überzeugen nicht. Früher wurde die Geschichte auf alles Mögliche übertragen. Es hieß, das Buch richte sich gegen Atomkraft, gegen Atomkrieg, es sei ein emanzipatorisches Buch. Aber ich glaube auch, dass es in der Geschichte um etwas viel Existentielleres geht: Das kann ein einschneidendes Erlebnis sein, etwas, das ihr den Weg zu ihrer Vergangenheit versperrt. Vielleicht eine Krankheit, ein schwerer Unfall oder eine Traumatisierung. So etwas sehe ich darin schon.

Die Protagonistin lebt in einer Welt, in einem Raum, der im Grunde völlig menschenleer ist. Der einzige Mensch, der diesen Raum betritt, wird von der Frau schließlich abgeknallt.
Ja, der wird abgeknallt, weil er ihre lebensnotwendigen Mitstreiter, die Tiere – Hund und Stier – tötet. Diese Tiere sind für ihr Leben existentiell. Der Mann, der die Tiere tötet, ist längst selbst zum Tier geworden. Somit werden die Grenzen zwischen Mensch und Tier hinter dieser Wand letztlich völlig aufgelöst. Die Wand als Grenze löst wiederum andere Grenzen auf. Sie verkehrt die Dinge. Die festgesetzten Wände, die im Menschen selbst existieren, verschwinden. Deswegen beachtet sie die eigentliche Wand irgendwann gar nicht mehr. Sie nimmt die Wand nicht mehr wirklich wahr. Sie sieht sie nicht mehr, sie beschäftigt sie nicht mehr. Das heißt, dass man die Vorstellungen, die man sich selber macht – das passiert meistens in der Lebensmitte – irgendwann zu hinterfragen und aufzulösen beginnt. Das macht auch die Protagonistin. Sie geht mit der Wirklichkeit um. Mit dem, was da ist und nicht mit dem, was sein müsste. Bevor die Wand in ihr Leben bricht, ist sie wie ein festgepanzertes städtisches Wesen, was nichts will, nichts macht und nur noch funktioniert.

Dieses Loslösen vollzieht sie ziemlich radikal. Was sie allerdings immer an ihre alte Welt bindet, ist das Schreiben. Solange sie schreibt, solange sie Stift und Papier hat, bleibt sie Mensch.
Wobei sie sich auch vom Schreiben wird verabschieden müssen. Und das Spannende ist, dass sie sich dessen absolut bewusst ist. Ihr wird bewusst, dass ihr alles genommen wird, alles, bis zum Tod. Mit dieser Vorstellung versöhnt sie sich während des Schreibens. Wenn das Papier alle ist und der Kugelschreiber alle ist, dann, so wird sie sagen, wird sich das Leben eben wieder andere Bahnen suchen. Dann werde ich in die Büsche schreiben. Dann verwandle ich mich ins Schreiben, in Buchstaben, dann tanze ich meine Sprache, dann denke ich nur noch. Die Frau hat schließlich keine Angst mehr davor, Dinge zu verlieren. Das ist es, was ihr aufhilft und warum man auch sagen kann, dass die Geschichte am Ende eine offene positive Perspektive besitzt.

Die Wand löst Grenzen, Vorstellungen, Ängste.  Alles löst sich. Auch körperlich löst sich die Frau von ihrem Geschlecht.
Ja, sie verliert mehr und mehr ihre Weiblichkeit. Das Geschlecht löst sich auf. Man kann sie nicht mehr genau definieren. Niemand weiß, was für ein Wesen sie am Schluss ist.

Frau Gedeck, vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Timo Stein

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