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„Chemie der Tränen“ - Große Gefühle zwischen Mensch und Maschine

In Peter Careys neuem Roman haben selbst Automaten und Motoren eine Aura

Autoreninfo

Koller, Catharina

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Das Swinburne Museum, das Peter Carey in seinem neuen Roman „Die Chemie der Tränen“ erfindet, ist ein geradezu organischer Ort im Londoner Zentrum mit verschachtelten Gängen und eingespielten, routinierten Abläufen. Hier arbeitet Catherine Gehring, Konservatorin in der Uhrenabteilung des Museums, Mittvierzigerin. Als eine „überraschend elegante, hochgewachsene Frau“ beschreibt sie sich selbst, ist im Roman aber die längste Zeit ein Schatten ihrer selbst, denn die Erzählung setzt ein, als sie erfährt, dass Matthew Tindall gestorben ist, Kurator am Museum und Familienvater, mit dem sie 13 Jahre lang eine Affäre hatte, so heimlich wie leidenschaftlich. Erschüttert in ihrem Kummer flüchtet sie sich in Alkohol und ein Restaurationsprojekt, das ihre Aufmerksamkeit mehr und mehr fordert: In acht Teekisten verpackt ist ein mechanischer Vogel, den sie aus zahllosen Schrauben, Federn und Einzelteilen gleichsam wieder zum Leben erwecken soll.

In einer der Kisten findet sie elf Notizbücher, Aufzeichnungen eines Henry Brandling, der den Vogelautomaten Mitte des 19. Jahrhunderts in Auftrag gab. Allein schon von seiner Handschrift, „so regelmäßig wie ein Sägezahndach“, ist Catherine in den Bann gezogen. Sie blättert sich hinein ins 19. Jahrhundert, in das Leben von Henry, dem träumerischen Spross einer britischen Eisenbahnerfamilie. Weil bei seinem schwer erkrankten Sohn Percy keine der viktorianischen Behandlungsmethoden anschlägt, setzt er all seine Hoffnung in den Bau des mechanischen Vogels, dessen Anblick seinen Sohn zum Lachen, seine Lebensgeister zurückbringen soll.

Das Spannungsfeld Mensch-Maschine


Aus den Romanseiten sprechen Harrys und Catherines Stimme im Wechsel, eine Art Dialog über Jahrzehnte hinweg entsteht. So wie Catherine den Vogel, der sich nach und nach als ein glänzender Schwan entpuppt, aus seinen Einzelteilen zusammenfügt, so setzt auch Peter Carey seinen Roman aus unterschiedlichsten Versatzstücken zusammen, die sich unter seiner Hand zu einer feingliedrigen Gesamterzählung fügen, in der all die Romanelemente aufeinander reagieren. Es geht um Kuckucksuhren und iPods, um London, den Schwarzwald, den Automobil-Pionier Karl Benz, die Differenzmaschine von Charles Babbage, den nie gebauten Prototyp aller späteren Rechenmaschinen, es geht um Märchenerzählungen, Naturkatastrophen – kurz: Es geht um große Erfindungen und große Gefühle, um das Spannungsfeld Mensch-Maschine.

Während aus Henry die eher hilflos-diffuse Hoffnung spricht, der Anblick des Automaten möge in seinem Sohn eine „magnetische Agitation“ auslösen, ist der von ihm beauftragte Automatenbauer Sumper getrieben von einer sehr viel handfesteren Überzeugung: dass man die Welt mittels neuer, leistungsfähiger Maschinen auch zu einem besseren Ort machen könne. Dem gegenüber steht die abgeklärte Einsicht von Catherine: „Weder Matthew noch ich hatten Zeit für Seelen. Dass wir komplexe chemische Maschinen waren, hat unserem Staunen nie Abbruch getan, unserer Verehrung für Vermeer und Monet, für unsere im salzigen Wasser treibenden Leiber, unsere flüchtige Freude angesichts des vergehenden Lichts.“ Es tröstet sie zu hören „dass von Gefühlen hervorgerufene Tränen sich chemisch anders zusammensetzen als etwa jene, die zur Befeuchtung des Augapfels produziert werden“, durch das Hormon Leu-Enkephalin, ein natürliches Entspannungs- und Schmerzmittel.

Ein Verbrennungsmotor genügt und die Menschheit richtet sich selbt zugrunde


Über Catherines Welt, die ganz von Trauer und der Wiederbelebung des historischen Kunstautomaten beherrscht wird, brechen die Ereignisse des Sommers 2010 hinein: die BP-Ölkatastrophe im Golf von Mexiko. Im Internet schaut sie sich Live-Bilder von Webcams an, die auf den Ölteppich gerichtet sind. Ein Ereignis, das den Autor Peter Carey selbst unmittelbar getroffen haben muss. In einem Interview zu seinem Roman sagte er, wenn man die Menschheit zerstören wolle, müsse man ihr offenbar nur den Verbrennungsmotor geben und sie einfach machen lassen. Diesem Eindruck stellt er im Roman die ursprüngliche Schönheit der Erfindung dieser Maschine gegenüber.

Peter Carey gilt als einer der größten australischen Schriftsteller der Gegenwart, für gleich zwei seiner Romane wurde ihm der Booker Preis verliehen. Auch der neue Roman zeigt, welche Freude es ihm bereitet, wie ein Uhrmachermeister die vielen Zahnräder eines Romans zusammenzufügen und zuzusehen, wie sie ineinandergreifen. Anstatt „Die Chemie der Tränen“ aber auf kühle, maschinelle Mechanismen zu reduzieren, sollte man dieses Buch vielmehr als einen Versuch lesen, nicht nur Romanfiguren, sondern auch Erfindungen wie Maschinen eine Seele, zumindest aber eine Aura zu geben.

Peter Carey. Die Chemie der Tränen. Roman. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2013. 320 S., 19,99 €

 

 

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