Kurz und Bündig - Rolf Hosfeld: Operation Nemesis

Als das Bundesland Brandenburg unlängst das Thema «Genozid an der armenischen Bevölkerung Kleinasiens» vom Lehrplan nahm, lag der Verdacht nahe, dass die un­heilige deutsch-türkische Allianz des Wegschauens noch immer funktioniert. Zwischen 800.000 und 1,4 Millionen Armenier sind 1914–1917 vom damaligen Bündnispartner des Wilhelminischen Reichs systematisch ermordet oder in den sicheren Tod getrieben wor­den.

Als das Bundesland Brandenburg unlängst das Thema «Genozid an der armenischen Bevölkerung Kleinasiens» vom Lehrplan nahm, lag der Verdacht nahe, dass die un­heilige deutsch-türkische Allianz des Wegschauens noch immer funktioniert. Zwischen 800.000 und 1,4 Millionen Armenier sind 1914–1917 vom damaligen Bündnispartner des Wilhelminischen Reichs systematisch ermordet oder in den sicheren Tod getrieben wor­den. Der deutsche Kaiser, der sich 1898 zum Schutzpatron al­ler Muslime der Welt erklärt hatte, sah dies als innere An­gelegenheit der Türkei an. Einer der Hauptverantwort­lichen der Massaker, der ehemalige Großwesir des Osmanischen Reichs Talaat Pascha, fand nach dem Krieg sogar Zuflucht in Berlin, wo er am 15. März 1921 aber von einem arme­ni­schen Studenten erschossen wurde. Nun war es um die dip­­lomatische Diskretion ge­schehen. Schon im Juni mach­te das Landgericht Berlin-Moabit einen kurzen Prozess, der zum Tribunal gegen die türkischen Kriegsverbrechen wurde, und sprach den Attentäter nach nur zwei Tagen frei. Was dort nicht verhandelt wurde: Der Mord an einem Mörder war Teil einer weltweit angelegten armenischen Rache-Kampagne, einer «Operation Nemesis», die den Aufhänger und die Rahmenhandlung für Rolf Hosfelds Buch bildet. Im Wesentlichen liefert Hosfeld jedoch eine umfassende, detailreiche und scharfsichtige Analyse türkischer Politik und großtürkischer Ideologie seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, die schließlich im von langer Hand vorbereiteten Mord an den christlichen Armeniern kulminierte. Sein Buch zeigt und analysiert das Kalkül eines Völkermordes – die systematische Unterminierung ethischer Standards, die eine «Subkultur des Mas­sakers» geschaffen habe. Es beschreibt das Schüren des Misstrauens zwischen Muslimen und Christen und den Aufbau eines innenpolitischen Sündenbocks für militärische Desaster wie den Feldzug im Kaukasus. Hosfeld sieht die Jungtürken als «rechtsmo­dernistische», nationalistische Avantgarde, die ihre «politischen Sturmabteilungen» aus abtrünnigen Offizieren, aber auch aus Bandenführern rekru­tierte. Seine Versuche, histo­rische Parallelen mit plakativen Begriffen wie «Blockpartei», «Heim-Ins-Reich»-Politik oder «Herrenrasse» auch semantisch kurzzuschließen, tragen zwar nicht immer zur Dif­ferenzierung bei, rücken den Völkermord an den Armeniern aber in den Kontext der europäischen Geschichte des frühen 20. Jahrhunderts und ihrer totalitären Auswüchse. Je mehr sich die Türkei heute als Teil Europas begreifen will, desto konsequenter wird auch sie sich dieser Ge­schich­te stellen müssen.

 

Rolf Hosfeld
Operation Nemesis. Die Türkei, Deutschland und der Völkermord an den Armeniern
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005. 351 S., 19,90 €

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