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(picture alliance) Partyspaß als Lebensinhalt - Generaton Y

Roman einer Generation - Und unten die Wahrheit

Thomas Melle hat einen großen Roman geschrieben. "Sickster" erzählt die Geschichte einer Generation, die nicht erwachsen werden darf

Die Literatur ist kein Erzählhandwerk, kein Beschreibungssport, keine Reportage aus dem eigenen Ich zur Selbstvermarktung und keine Diskurs­arena. In ihrem Kern ist die Literatur ein Wahn. Vor der Literatur kommt das Unglück an der Wirklichkeit. Es muss so groß und quälend sein, dass man sie aufgibt und sich eine neue Wirklichkeit aus Sprache schafft. Große Literatur ist eine Art gesellschaftlich akzeptierter Psychose. Und in den nackten Wahn muss die Literatur immer wieder zurückkehren, wenn sie sich nicht hohl und leer fortschreiben und zu einem endlosen Werbetext für die Existenz der eigenen Kunstform verkommen will.

In Thomas Melles Roman „Sickster“ ist der Wahn die logische Endstation für alle Figuren, für die der Autor ein Herz hat. Erzählt wird die Geschichte dreier erotisch ineinander verschränkter Abstürze aus der deutschen Wirklichkeit. Man quält sich aus dem Klammergriff der lebensuntüchtigen Eltern. Man fönt sich zum Karrieristen auf und säuft sich den Erfolg hinterrücks wieder kaputt. Man träumt von einer inneren Wahrheit, von einer Sekunde der wahren Empfindung, ganz handkemäßig. Man ballert der Welt den ewigen präpotenten Adoleszentenspruch in die Fresse: „Lieber fetzt alles richtig auseinander, als dass die Lüge mich falsch zusammenhält.“ Man macht ordentlich einen drauf und instruiert die scharfe Kellnerin: „Heute wird attackiert. Bis ans Limit gehen wir heute. Wir fahren am Anschlag, roter Bereich. Was geht noch heute Abend? Geht heute Abend noch was? Ich zahle.“ Und wahrlich, Melle fährt am Anschlag und liefert seine Figuren ganz, ganz unten ab. Tiefroter Bereich. Ganz unten, dort wartet für diesen Autor die Wahrheit. Die Mitte, aus der man noch glaubt, nach oben kommen zu können, ist der Ort der Lüge.

Ach, schrecklich krampfige Passagen gibt es in diesem Buch, wenn es plötzlich absatzweise die Welt erklären will. Ach, schrecklich dick aufgetragen wird manchmal die romantische antikapitalistische Empörung, und immer wieder kommt dieses Buch ins Flattern, flimmert und franst an den Rändern aus. Aber auf dem größten Teil der Strecke überwiegt beim Lesen großes Glück. Dann schreibt Melle mit traumhafter Sicherheit, spannt weite Bögen auf und zieht plötzlich alles auf atemberaubende Weise auf eine Sentenz zusammen: „Alles in der Vogue Gelesene bisher Quatsch, dachte Laura und ging Richtung Toilette.“

Wenn „Sickster“ denn schon das Buch einer Generation sein muss (und jedes Buch, das auf sich hält, muss das Buch einer Generation sein wollen, wobei sich der Generationswechsel im Literaturbetrieb alle fünf Minuten vollzieht), dann ist es das Buch einer Generation, die nicht erwachsen werden darf. „Erwachsenwerden“, das ist das Wort, gegen das all diese Figuren anrennen wie gegen eine Wand aus Stahlbeton. Es gibt einfach keinen Begriff mehr dafür. Es gibt keine positiven Vorbilder, keinen Weg dorthin, der Druck zur Selbstinfantilisierung als Konsument – von Waren, Drogen, Spaß – ist einfach zu groß. An ihrer Unfähigkeit, sich damit abzufinden, lässt Melle seine drei Gestalten namens Magnus, Thorsten und Laura hier verzweifeln.

Wo andere Texte kokett mit roten Tüchern wedeln, riecht dieser nach echter Gefahr. Wenn man ihn sticht, dann blutet er. Wo andere Autoren sportlich sind, hat dieser Kraft. Nun wird der deutsche Literaturbetrieb sich in seiner ganzen Gouvernantenhaftigkeit darüberbeugen und versuchen müssen, mit seinem „Wirklich sehr begabt!“-Gemurmel alles zu einem Mittelmaß zu zermahlen, vor dem sich niemand mehr fürchten muss. Da muss er durch. Thomas Melle ist ein großer Schriftsteller.

Thomas Melle: "Sickster", Roman; Rowohlt Berlin, 2011; 336 Seiten, 19,95 Euro

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