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(picture alliance) Sozialistische Autos: Der erste Yugo rollt in Kragujevac in Serbien (Ex-Jugoslawien) vom Band. (undatiertes Archivfoto)

Jugoslawien-Buch - Von sozialistischen Autos, Träumen und Legenden

Ein Unfall, eine Kindsentführung und ein Selbstmord: Miljenko Jergovi? vervollständigt mit „Wolga, Wolga“ seine historische Auto- und Jugoslawien-Trilogie. Ein grandioser Roman

Erst spät offenbart sich das grausame Ereignis, das in diesem Roman den Dreh- und Angelpunkt bildet: ein Verkehrsdelikt, bei dem am Neujahrstag 1988 zwei Erwachsene und drei Kinder ums Leben gekommen sind. Für schuldig, den Unfall im Zustand der Volltrunkenheit verursacht zu haben, erklärt sich Dželal Pljevljak, ein bis dahin völlig unauffälliger langjähriger Fahrer für die jugoslawische Armee. Zu Beginn des Romans erleben wir ihn auf dem Weg nach Fatima, wo er seinen Wolga M24 an eine befreundete Familie verkaufen will – dasselbe Auto, das dann Stunden später den Unfall verursachen wird. Die Fahrt wird zu einer Reise in die eigene Vergangenheit, weckt Erinnerungen an Weggefährten, an Zeiten der Trauer und Einsamkeit.

Bis zu diesem Punkt erinnert die Erzählarchitektur auffällig an Jergovi?s Erfolgsroman „Freelander“ (2007), bei dem ebenfalls eine Autofahrt als Motor gedanklicher Rückblenden diente. Selbst die Anspielung auf eine Automarke im Titel des Buchs teilt „Wolga, Wolga“ mit dem vorausgegangenen Roman des kroatischen Autors. Dann aber wechselt überraschend die Perspektive, und ein Untersuchungsbericht über den Neujahrsvorfall eröffnet einen völlig neuen Spannungsbogen. Der Bericht rekonstruiert die Vorgeschichte Pljevljaks: das Verschwinden seiner Tochter, den Selbstmord seiner Frau Mersiha und den Weg, auf dem der derart vom Schicksal Gestrafte Trost im Glauben fand.

Zwar lässt der Bericht keinen Zweifel an der Schuld des Verurteilten. Dennoch aber bleibt es rätselhaft, wieso ausgerechnet ein routinierter Fahrer und gläubiger Muslim, dem seine Religion den Alkoholgenuss verbietet, sich plötzlich besinnungslos betrank und den Unfall riskierte. Gegen Ende des Romans ist es dann, wie zu Beginn, die Sicht Pljevljaks, aus der das Geschehen rekapituliert wird und eine völlig neue Wendung erfährt.

Doch auch wenn dem Leser auf diese Weise ein Schlüssel für das Unfall-Rätsel an die Hand gegeben wird, behält doch ein anderer Eindruck hier die Oberhand: die Ungewissheit darüber, wo überhaupt die Grenzen zwischen Tatsachen, Legenden, Träumen und Lügen verlaufen. Wahrheit, so zeigt das kontrastreiche Spiel der verschiedenen Erzählperspektiven, ist nicht zuletzt eine Frage persönlicher Integrität und Identität – und gerade Letzterer muss sich Dželal Pljevljak immer wieder gebetsmühlenartig versichern.

Die Leute hingegen, heißt es einmal, glauben selten an das, was passiert ist, sie glauben das, was auf keinen Fall sein kann. Auch der Roman selbst spart nicht an bizarren Gestalten und unfassbaren Lebensgeschichten, die immer wieder den Erzählfluss umleiten und verzögern. Eine dieser Figuren ist Bedrija Luka?, eine Theoretikerin des Einkochens von süßem und scharfem Ajvar. Als schwer traumatisierte Zeugin des Selbstmords von Mersiha beherrscht sie exakt jene Erzählstrategie, die für den Roman als Ganzen gilt: das tragische Ende der Geschichte durch immer wieder neue Einschübe so lange wie möglich hinauszuzögern. Dieses Verfahren erlaubt es wiederum dem Autor, Blitzlichter auf die Geschichte des ehemaligen Jugoslawien zu werfen.

Als Schauplatz religiöser, ethnischer und politischer Bindungen und Konflikte ist die ehemalige Vielvölker-Republik unabdingbar für die Brisanz der Handlung, der Angeklagte Pljevljak etwa wird stets auch als Kroate und Muslim wahrgenommen. Am Ende aber sind es die Sezessionskriege der neunziger Jahre, welche die Dimensionen von Schuld und Verbrechen außer Kraft setzen und den, wie es heißt, einstmals in der Boulevardpresse wie unter Intellektuellen breit diskutierten Vorfall vom Neujahrstag 1988 schnell in Vergessenheit geraten lassen. Die hitzige Kontroverse, ob religiöser Fanatismus, besinnungsloser Rausch oder aber eine Traumatisierung dazu führte, dass unversehens fünf Menschen starben, erscheint vor diesem Horizont nur mehr als Vorahnung eines weit größeren Unheils.

So kann der Fall Pljevljak auch als Sinnbild für das Schicksal eines ganzen Landes gelesen werden. Als belehrend-einfältige Allegorie freilich möchte Jergovi? seinen Roman keinesfalls verstanden wissen. Stattdessen schlägt er die treffende Bezeichnung „dokumentarische Fantasie“ vor – ein Genre, in dem man diesem grandiosen Erzähler gern weiter folgen möchte.

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