Dieses Bild ist leider nicht mehr verfügbar
() Peter Kruse: „Eine Revolution von heute ist nicht mehr das gleiche wie eine Revolution von früher.“
Revolution 2.0 - Facebook und die Mobilisierung von Gesellschaften

Die Unruhen in Ägypten zeigen: Internet-Netzwerke spielen eine immer größere Rolle für die Mobilisierung von Menschen. Im Gespräch mit Cicero Online analysiert Peter Kruse, Experte für Neurophysiologie und Organisationspsychologie, das Potential von Facebook, Twitter und Co.

Die aktuellen Unruhen im arabischen Raum zeigen, dass Internet-Netzwerke wie Facebook oder Twitter eine immer größere Bedeutung für die Mobilisierung von Menschenmassen erhalten. Haben sie die klassische Mundpropaganda mittlerweile abgelöst? Die Mundpropaganda hat das Problem, sich einfach nicht so schnell verbreiten zu können wie das Internet. Die Grundidee, Informationen in einem Netzwerk verteilbar zu machen, ist so alt wie die Menschheit. Wir haben immer schon versucht, Informationen zu verteilen und dabei alle erdenklichen Mittel benutzt: Denken Sie an die Volkszählung im Jahr 1987 zurück. Damals haben die Bürger ihre Proteste auf Geldscheine geschrieben, denn Geldscheine haben eine hohe Zirkulationsgeschwindigkeit. Dem uralten Bedürfnis nach unkontrollierbarer Vernetzung von Information kommt das Internet sehr stark entgegen. Der Unterschied ist, dass es eine grundsätzlich andere Systemarchitektur benutzt: Wir haben noch nie ein kommunikatives System gehabt, das eine solche Vernetzungsdichte einerseits und eine hohe Spontanaktivität andererseits erzeugt wie das Internet. Drittens haben wir es mit kreisenden Erregungen als eine Art Kurzzeitgedächtnis zu tun; Informationen, die wir interessant finden, können mit einem Knopfdruck wieder ins Rennen zu geschickt werden. Das Bedürfnis nach Austausch, nach Mund-zu-Mundpropaganda ist das gleiche geblieben. Ob am Stammtisch, über Telefon oder eben über Geldscheine. Nur die Systemkonfiguration ist neu.
Woran liegt es dann, dass gerade das Internet solche Massenbewegungen wie in Ägypten auslöst? Zunächst haben die Menschen das Internet nur als Zugang zu Information betrachtet, dann als fantastisches Netzwerk zum Hinterlassen von persönlichen Spuren. Heute begreifen sie, dass dieses Netzwerk zu einer Machtverschiebung in der Gesellschaft geführt hat. Das ist eine neue Entdeckung. Wir haben eine Machtverschiebung vom Anbieter auf den Nachfrager. Es ist nicht mehr wichtig, wer die Information bereitstellt, sondern entscheidend ist die Reaktion auf die Information. Wenn man mit einer Information einen Resonanzpunkt trifft, wenn sie also für viele Menschen interessant ist, dann wird sie sich in kürzester Zeit verbreiten und die Stimmung aufladen.
Ist es nicht übertrieben, heute von Twitter- oder Facebook-Revolutionen zu sprechen? Nein, im Juli des vergangenen Jahres habe ich bereits den Begriff der Revolution 2.0 aufgeworfen. Eine Revolution von heute ist nicht mehr das gleiche wie eine Revolution von früher. Früher waren Revolutionen identitäts- und ideologiegetrieben. Heute ist die Frage: Erreicht ein Thema eine Resonanzfähigkeit? In Ägypten hat sich etwas aufgestaut, was jahrelang unterdrückt wurde. Aber die Basisresonanz, das Bedürfnis nach Freiheit, das war latent vorhanden. Und wenn das schließlich mit den Selbstaufschaukelungsmechanismen im Netz zusammentrifft, dann besteht die hohe Wahrscheinlichkeit, dass auch fest etablierte Machtinstanzen in Frage gestellt werden. Früher galt, wer die Medien beherrschte, wer in den Medien präsent war, derjenige hatte die Macht. Als die Anzahl der Medien immer weiter zunahm, wurde es wichtig, in den Medien Aufmerksamkeit zu erregen. Heute tritt eine neue Dimension hinzu. Heute ist nur noch mächtig, wer Resonanz erzeugt. Die Macht sitzt nicht mehr beim Sender, sondern bei dem, der nachfragt. Wenn der aktiv wird, lädt sich das System auf. Wir sind, wenn man so will, in eine Art Resonanzwelt eingetreten. Man muss wissen, wo die Resonanzpunkte sind, um nicht so überrascht zu werden.
Mit der Revolution 2.0 entsteht also ein ganz neues System. Aus Ägypten wurde berichtet, dass die Internet-Netzwerke aber ihre Bedeutung einbüßten, als die Unruhen auf die Straße übergegangen sind. Die Netze sind nicht die Ursache für die Unruhe. Sie sind ein logischer systemischer Turbolader, weil sie eben solche Resonanzreaktionen hervorrufen. Nicht das Netz, sondern das Resonanzfeld in der Gesellschaft bewirkt die Revolution. Das Internet schafft schnell ein Gefühl von Masse und das gibt die Sicherheit, die persönliche Angstschwelle zu überschreiten, sichtbar zu werden und Wirkung zu erzeugen. Wenn die Menschen schon virtuell das Gefühl von Masse haben, gehen sie eher auf die Straße. So wird eine schnellere Reduktion der Angstschwelle erreicht. Da die Menschen auf der Straße mehr von einem Thema als von Ideologie getrieben sind, ist von ihnen weniger Gewaltbereitschaft zu erwarten. Erst die Reaktion der angegriffenen Systeme oder Religionszusammenhänge können die Proteste radikalisieren.
Zu einem anderen Punkt: Internet-Netzwerke oder Videoplattformen wie youtube werden auch als eine neue Form der Berichterstattung genutzt. Sie selbst sagten einmal: „Wir können uns in der momentanen Situation nicht blind der Masse anvertrauen. […] Wir sind auf die Rückkehr des qualitativen Journalismus angewiesen.“ Was heißt das für die aktuelle und künftige Berichterstattung? Das Netz hat ein Grundsatzproblem. Die Informationen werden aus dem Kontext gelöst. Es ist das gleiche, als ob keine Bücher mehr geschrieben würden, sondern nur noch Zitate. Ein Aphorismus beispielsweise ist ein sehr kontextreicher Kurztext. Der Kontext muss aber erkannt werden, um den Aphorismus zu verstehen. Das Internet löst diese Kontexte radikal auf. Wir haben einen Strom von Echtzeitinformation in permanent neuen Kontexten. Das macht das Verstehen unglaublich schwer. Die Gefahr der Missdeutung von Information ist unglaublich groß. Außer in bestimmten communities – semantischen Räumen, in denen die Menschen gemeinsam die Information bearbeiten – fällt das musterbildende Verstehen, das Nachvollziehen von Trends oder das Diskutieren von Themen schwer. Wikipedia beispielsweise funktioniert nur deshalb so gut, da man schnell und sicher sagen kann, was richtig und was falsch ist. Stellen Sie sich vor, es gäbe Wikipedia über das Thema Ethik. Es wäre ungleich schwieriger, zu sagen, was richtig und was falsch sei. Das Thema wird diskursabhängig und Diskurs braucht Dauer, also genau das, was dem Internet fehlt.
Heute werden Informationen schnell und ungefiltert auf der ganzen Welt verteilt. Wie sehen Sie die Zukunft des qualitativen Journalismus? Klar ist: Ein guter Journalist wird in Zukunft nicht derjenige sein, der als erster oder einziger eine Information besitzt. Derjenige wird ein guter Journalist sein, der eine Information besser verarbeitet. Journalismus ist eine innere Haltung des Bemühens um Qualität.
Wird es dann in Zukunft ein Zusammenwirken geben zwischen denen, die die Informationen frei ins Internet stellen und den Journalisten, die die Informationen qualitativ aufbereiten? Ja. Das einzige Problem, was der Journalist dann aber hat, ist die Rekontextualisierung der Information. Wenn Sie mir ein Handyvideo von irgendwo her schicken, muss ich dessen Aussagekraft überprüfen. Weil ich aber nicht selbst am Ort des Geschehens bin, ist das ein Problem. Wenn ich nicht selbst da stehe und sehe, dass geschossen wird, sondern nur ein Bild des Toten sehe, dann wird es schwer, die Kontexte zu überprüfen. Authentizität durch Dabeisein ist ein hoher journalistischer Wert. Der muss in diesem Fall sozusagen in der zweiten Instanz realisiert werden. Dazu gibt es sogenannte Factchecker, die sich bemühen, schnell zu überprüfen, welchen Wahrscheinlichkeitsgrad die Informationen haben.
Herr Prof. Kruse, Herzlichen Dank für dieses Gespräch! Das Interview führte Philipp Meller Lesetipp: Twitter, Facebook und die Revolution in Ägypten

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.