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(picture alliance) "Wir sind die 99 Prozent"

Occupy-Phänomen - R€volution der Träumer

Wut und Hoffnung treibt die Protestler: Das Occupy-Phänomen hat sich mittlerweile zu einer globalen Bewegung gegen das Finanzsystem formiert. Idealisten im Kampf um soziale Gerechtigkeit. Doch erkämpfen sich die Bürger so auch ihre Systemrelevanz zurück?

 „Jetzt müssen Sie sprechen!“
„Ich kann nicht.“
 „Sie müssen! Das ist unsere einzige Hoffnung.“
„Hoffnung?“

Und dann tritt Charlie Chaplin ans Mikrofon. Zu hören ist seine berühmte Rede an die Menschheit in seiner Rolle des Großen Diktators. Er spricht von Mutter Erde, die reich genug ist, „um jeden von uns satt zu machen“, von der Habgier, die das Gute im Menschen verschüttet habe, von Opfern des Systems, die zu Grunde gerichtet würden von „Maschinenmenschen mit Maschinenköpfen und Maschinenherzen“. Es ist eines von dutzenden Videos, die im Vorfeld zur großen Protestaktion gegen das Finanzsystem am vergangen Wochenende das Internet überschwemmten. Dramatisch aufbereitet mit Bilder demonstrierender Menschen und pathetischer Filmmusik.

Seit Wochen tobte sie bereits im Netz, die virtuelle Vendetta. Nun traten die Menschen mit der bezeichnenden Guy-Fawkes-Maske aus dem Film „V wie Vendetta“ aus ihren Foren auf die Straße, verlegten den Cyber-Klassenkampf in die Realität, um leibhaftig gegen die Auswüchse der Finanzmärkte, gegen das Raubtier Kapitalismus zu streiten – „im Namen der Demokratie“, wie es am Ende von Chaplins Rede heißt. Chaplin, der Träumer, der Gutmensch, der Humanist. Das Hackerkollektiv Anonymous hätte sich kein passenderes Leitbild für ihre Kampagne aussuchen können, weisen sich doch die Protestler vor allem durch einen naiven Idealismus aus, allesamt Weltverbesserer, die neben der überschäumenden Wut auf Banken und Finanzmärkte vor allem eines antreibt: Hoffnung. Doch diese stirbt bekanntlich ja zuletzt.

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Was am 17. September im Zuccotti-Park in Lower Manhattan, nahe der New Yorker Wall Street mit ein paar Zelten und bemalten Schildern unter dem Titel „Occupy“ begann, entwickelte sich zu einer weltweiten Revolution. Am 15. Oktober 2011 gingen in 951 Städten in 82 Ländern Menschen auf die Straße, Wut und Hoffnung gleichermaßen in ihren Herzen tragend. Und trotz dieser Massen an Demonstranten scheint „Occupy“ ein Kampf, David gegen Goliath zu sein.

Weltweit sehen sich Menschen konfrontiert mit der Übermacht des Bankensystems, dieser grauen Eminenz, die sich Millionen, ja Milliardenbeträge in die Taschen streicht, während der Rest der Gesellschaft die Kollateralschäden ihrer Raffsucht, von Fehlentscheidungen und Verspekulationen davonträgt. Es sind die berühmten 99 Prozent, die sich vom übrigen einen Prozent ausgebeutet fühlt. Das eine Prozent, die unrühmlichen „Bankster“, die in den gläsernen Palästen der Financial Districts dieser Welt sitzen, durch die Schlitze ihrer Jalousien spitzeln, hinunter auf die Straße – egal ob Wall Street oder der Platz vor der EZB. Hier erspähen sie den marschierenden Mob, der sich für den Kampf gegen die Windmühlen gerüstet hat. Mit Parolen – „Steuern den Palästen, Friede den Häusern“, „Sapere Aude! Empört euch!“, „R€volution“ – denn mehr als das bloße Wort dient ihm nicht als Kanonenfutter.

Der wütende Mob, er hat kein Gesicht (bis auf die Guy-Fawkes-Maske). Es sind Anhänger linker Parteien (vorwiegend, obwohl sich ab und an auch ein paar CDU/CSU-Wähler unter ihnen finden), Gewerkschafter, Vertreter des globalisierungskritischen Netzwerks Attac, Rentner, Studenten, Hartz-IV-Empfänger, Berufsempörte ebenso wie persönlich Betroffenen, die ihren Job, ihr Vermögen, aber vor allem doch ihre Perspektive, die Hoffnung auf einen guten Ausgang dieser Krise verloren haben. Es ist das Empörungspotential der Bürger, das sie eint, denn auf ihren Schultern wird die Finanzkrise schließlich ausgetragen. Mit ihren Steuergeldern wird das schwarze Loch gestopft. Dabei scheinen die Regierungen jedoch ebenso Getriebene der Krise zu sein, wie ihre Bürger.

Bedrückend ist die offensichtliche Ohnmacht der Politiker, der Volksvertreter, die scheinbar weder Konzept noch Regularien zu entwickeln im Stande sind, um das Problem an der Wurzel zu packen. Hingegen werden Schuldenobergrenzen angehoben, Rettungsschirme weiter und weiter gespannt, um klaffende Finanzlecks mit Geld und abermals Geld zu bepumpen. Doch wird damit lediglich Zeit gekauft, das Problem mit einem feinen Geldteppich oberflächlich kaschiert. Darunter rumort es fleißig weiter. Und waren es 2008 noch die Banken, die nach der  Lehman-Pleite in die Krise abrutschten, so fürchten sich heute ganze Staaten vor dem Bankrott. Mit Steuergeldern allein lässt sich dieses hochporöse Finanzkonstrukt lange nicht mehr stabilisieren. Masterplan? Fehlanzeige.

Den Demonstranten, auch ihnen fehlt offenkundig ein Konzept. Sie wissen, wogegen sie kämpfen, jedoch nicht wofür. Vielleicht müssen sie das auch nicht, genügt im Grunde übergreifende Solidarität für ein globales Problem zu bekunden. Ihre soziale Pflicht ist nicht, die Finanztransaktionsteuer einzuführen, oder die Banken aufzufordern, auf einen Teil ihrer Forderungen an verschuldete Staaten zu verzichten – ihre Pflicht, sofern man von einer ausgehen möchte, ist Präsenz zu zeigen. Präsenz, um den Banken nicht kampflos das Feld zu überlassen, um diejenigen wachzurütteln, die dafür Sorge tragen, dass die Welt eben nicht vor die Hund geht: die Politiker. Auf sie muss Druck ausgeübt werden, damit sie die Banken in ihre Schranken weisen, „für die Herrschaft des Volkes, gegen die Diktatur des Geldes“.

Joachim Gauck tat die Antikapitalismusdebatte kürzlich als „unsäglich albern“ ab. Albern wäre es jedoch, das Phänomen der Occupy-Bewegung zu ignorieren. Die Bürger versuchen – zu Recht – sich ihre Systemrelevanz zurück zu erkämpfen. Ob sich damit allerdings der Kapitalismus läutern lässt. Es ist schwer vorstellbar.

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