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Projektionsfläche politischer Sehnsüchte - Die große Trauer um Helmut Schmidt ist ein Alarmsignal

Kolumne: Grauzone. Die Reaktionen auf den Tod des Altkanzlers sind auffallend persönlich. Die Generation Golf hat eine Vaterfigur verloren, einen „großen Staatsmann mit Charakter“. Mit der Ehrerbietung für Helmut Schmidt kommt auch die Verachtung der gegenwärtigen Politikergeneration zur Geltung

Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Helmut Schmidt war erst wenige Stunden tot, da hatten die Spitzen der Politik ihre Betroffenheit über das Ableben des Altkanzlers schon zu Protokoll gegeben. Angela Merkel würdigte ihren Amtsvorgänger als „politische Institution“, „natürliche Autorität“ und „Instanz“. Für Bundespräsident Joachim Gauck war Schmidt „ein Mann der Tat, des klaren Gedankens und des offenen Wortes“. Und SPD-Chef Sigmar Gabriel sah in dem Hanseaten den großen Patrioten, Europäer und Sozialdemokraten.

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Nun offenbaren Beileidadressen von Politikern selten Persönliches, das ist auch nicht ihre Aufgabe. Sie sind formelhaft komponierte Sprachmosaike, zusammengestellt aus einer handvoll Textbausteinen. Das ist auch nicht weiter schlimm, sondern gehört zu den ehrenden Ritualen eines Staates.

Sehr viel spannender als die offiziellen Verlautbarungen sind jedoch die Reaktionen der Bürger. Und die kann man – der digitalen Revolution sei Dank – auf zahlreichen Kommentarseiten, auf Blogs und bei Twitter nachverfolgen.

Potpourri an Kommentaren
 

Scrollt man durch die Masse der Statements, Trauerbekundungen und Anmerkungen, die in den Stunden nach Schmidts Tod auf den einschlägigen Kanälen hinterlassen wurden, wird man mit einem bunten Potpourri mal launiger, mal ernster, mal privater, mal politischer Kommentare konfrontiert.

Dabei fällt zunächst eine populärkulturelle Marotte auf: der unaufhaltsame Siegeszug des „R.I.P“. Das ist die ursprünglich die Abkürzung für „Requiescat in pace“ und nicht etwa für „Rest in Peace“. „Ruhe in Frieden“ schreibt kaum jemand. Wahrscheinlich klingt es nicht weltmännisch genug und verbraucht bei Twitter zu viele Zeichen. Schade eigentlich. Doch das nur am Rande.

Überfliegt man die zahllosen Nekrologe auf den Altkanzler, stolpert man über eine auffallend hohe Anzahl sehr persönlicher Bemerkungen. Stellvertretend für Tausende schreibt einer: „Schmidt war der Kanzler meiner Jugend“. Vielleicht ist das auch schon einer der Gründe für die tiefe Anteilnahme, die einem aus dem Netz entgegenschlägt. Schmidt war der Kanzler der Generation Golf. Er gehörte zur ihrer Kindheit wie die Prilblume, wie „Dalli Dalli“ und „Brauner Bär“.

Für diese Generation, geboren zwischen 1965 und 1975, symbolisierte Schmidt Sicherheit und Geborgenheit. Dass insbesondere seine Kanzlerschaft von Krisen und Erschütterungen gezeichnet war, ändert daran nichts. Mit ihm verliert diese Altersgruppe, das machen viele Netzeinträge deutlich, eine Art Vaterfigur. Das sagt viel über die psychologische Verfassung einer Generation, die seit zwei Jahrzehnten erwachsen sein sollte, deren Sehnsuchtsort aber ihre Kinderwelt der 70er Jahre ist.

Ehrerbietung für Charakterstärke
 

Dazu passt, dass in den Nachrufen im Netz immer wieder das Bild des Lotsen bemüht wird, der nun von Bord gegangen sei. Der Kanzler erscheint hier als unbeirrbarer und umsichtiger Steuermann, der das Staatsschiff mit Augenmaß durch die Stürme der Zeit manövrierte – und das nun einer mediokren Crew von Leichtmatrosen überlassen bleibt.

Es verwundert daher nicht, dass in den digitalen Trauerbekundungen kaum eine Charakteristik so häufig verwendet wird wie „Staatsmann“, „großer Staatsmann“ oder auch „letzter großer Staatsmann“. Dass sich hinter dieser Ehrerbietung für den Exkanzler häufig eine ganz offene Verachtung für die aktuellen Politakteure mischt, wirft ein bezeichnendes Licht auf die Stimmung in unserem Land.

Offensichtlich diente der Altkanzler vielen als Projektionsfläche ihrer politischen Wünsche und Sehnsüchte. Das wird immer dann besonders deutlich, wenn in den Netznekrologen Schmidts Charakterstärke hervorgehoben wird oder die Tatsache, dass er überhaupt „ein Politiker mit Charakter“ war.

Dieser Charakter zeigt sich für die Trauernden in seiner „Ehrlichkeit“, seiner „Klarheit“, seiner „Gradlinigkeit“ und „Integrität“. Für viele war Schmidt der „letzte Aufrichtige“. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass die aktuelle Politikergeneration als unaufrichtig wahrgenommen wird, als nicht integer und prinzipienlos.

Verlangen nach Klartext
 

Wenn Personen des öffentlichen Lebens sterben, stirbt immer auch ein Teil der eigenen Biografie. Das erklärt die aufrichtige Trauer um den Altkanzler, vergleichbar mit derjenigen um Udo Jürgens vor knapp einem Jahr: das alte Westdeutschland wird nun endgültig Vergangenheit.

Doch die Hochachtung, ja Ehrerbietung, die sich in den Nachrufen auf Helmut Schmidt ausdrückt, ist vor allem ein Misstrauensvotum für den derzeitigen Politbetrieb. Man könnte auch sagen: ein Armutszeugnis für das Berliner Personal.

Parteiübergreifend, das zeigen die Trauerbekundungen nach Schmidts Tod überdeutlich, scheint es ein Verlangen nach „Klartext“ zu geben, danach, den als nichtssagend empfundenen Code des politischen Betriebes ebenso zu durchbrechen wie seine als restriktiv wahrgenommene geistige Monokultur.

Insofern personifizierte Helmut Schmidt in seiner stoischen Unangepasstheit ein Ideal. Deren sichtbares Symbol war seine immer glimmende Zigarette. Und so ist es mehr als eine anrührende Geste, wenn viele in ihren Kondolenzbekundungen angeben, eine letzte Zigarette auf ihren Altkanzler rauchen zu wollen. Es ist auch eine Widerstandgeste und damit ein Alarmsignal.

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