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Kita in Fukushima - Cäsium 137 im Garten

Die Erzieherin Sadako Monma hat den ersten Waldorfkindergarten in Fukushima gegründet. Seit dem Tsunami und der Atomkatastrophe kämpft sie gegen den unsichtbaren Staub – und versucht doch, ein normales Leben zu führen

Autoreninfo

Judith Brandner ist Radiojournalistin aus Österreich. Sie hat zahlreiche Bücher verfasst, unter anderem zu Japan nach Fukushima.

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In „Zuhause in Fukushima“ schildert die Journalistin Judith Brandner das Leben nach dem Tsunami und der Havarie des Atomkraftwerkes. Dazu hat sie 13 Japaner von Tokio bis Fukushima porträtiert. Bei Cicero Online lesen Sie einen Vorabdruck. Der Text ist ein Teil des Kapitels Fukushima – Die Waldorfkindergärtnerin Sadako Monma

 

 

 

„Guten Morgen, Frau Judith. Es ist heute sehr windig in Fukushima. Pass auf!“ Der fürsorgliche Hinweis von Sadako Monma auf die widrige Witterung kommt am Tag unseres Wiedersehens in Fukushima-Stadt. Sadako Monma schreibt seit einiger Zeit E-Mails mit einzelnen deutschen Sätzen im japanischen Text.

Schon im Dezember 2012, ein gutes Jahr nachdem wir uns in ihrem Kindergarten im Bezirk Watari in Fukushima-Stadt kennengelernt hatten, schrieb sie mir, dass sie jetzt im Selbststudium Deutsch lerne und nach Dresden und Leipzig fahren möchte, um ein Praktikum in einem Waldorfkindergarten zu machen: „Die Atomkatastrophe habe ich mir nicht gewünscht. Es war ein überaus beklagenswertes Ereignis. Aber die Götter haben mir dadurch Zeit geschenkt, die ich nütze, um noch einmal etwas zu lernen. In meinen Kindergarten kommen nur mehr drei Kinder. Ich trage keine so große Verantwortung mehr wie früher und kann daher nach Deutschland reisen.“

Ihr Kindergarten, erwähnte sie damals kurz, sei jetzt umgezogen. Da war mir klar: Sie hat den Kampf gegen den „unsichtbaren Staub“ verloren. Ein Bilderbuch hatte mich im Herbst 2011 zu ihr gebracht – die illustrierte Geschichte der Kinder, die sich bei der Erde für die Verschmutzung entschuldigen. Anti-AKW-Aktivisten in einem Protestzelt vor dem METI, dem Ministerium für Wirtschaft, Handel und Industrie in Tokio, die ich interviewt hatte, hatten es mir gezeigt. Es war ihr letztes Exemplar und sie wollten es eigentlich nicht aus der Hand geben. Es kostete mich einige Überredungskunst, es ihnen doch abzuluchsen.

6.000 Menschen aus Fukushima weggezogen


Als hätte ich geahnt, wohin mich das Büchlein bringen und zu welch bereichernden Begegnungen es mir verhelfen würde. Es war einer jener glücklichen Zufälle, die es in Japan immer wieder gibt. Manche nennen es auch Schicksal.

[[{"fid":"61387","view_mode":"full","type":"media","attributes":{"height":503,"width":717,"style":"width: 300px; height: 210px; margin: 4px; float: left;","class":"media-element file-full"}}]]Das Bilderbuch hat Sadako Monma gemeinsam mit einem ehemaligen Mitarbeiter ihres Kindergartens herausgebracht, mit dem Grafikdesigner und Künstler Makoto Ishiyama, der die Geschichte geschrieben und gezeichnet hat. Er war dann einer der ersten, der sie, den Kindergarten und Fukushima verlassen hat. Bald nach der Katastrophe zog er nach Hokkaido und ließ Sadako Monma mit einem großen Schmerz und der Vorahnung auf kommende Verletzungen zurück. Aus Fukushima-Stadt sind seit dem Unfall im AKW rund sechstausend Menschen weggezogen. „Die Gräben in der Gesellschaft“, sagte Sadako Monma einmal, „die die Katastrophe aufgerissen hat, und die menschlichen Verluste sind schwerer auszuhalten als die Angst vor der radioaktiven Verstrahlung.“

Das Buch über das „Licht der Hoffnung“ ist die Geschichte von den traurigen Kindern, denen Luft und Wasser und Erde und Insekten und Blumen alles bedeuten, die aber nicht mehr ins Freie dürfen; die Geschichte der Erwachsenen, die selbst zur Schaufel gegriffen und den „unsichtbaren Staub“ rund um den Kindergarten weggeräumt und vergraben haben. Der „unsichtbare Staub“, das ist das verstrahlte Erdreich nach der radioaktiven Wolke, die am 15. März 2011 über Fukushima-Stadt niedergegangen ist. Das Bilderbuch spricht vom „Licht der Hoffnung“, der Hoffnung, dass nach der Dekontaminierung wieder alles beim Alten ist, die Kinder wieder hinaus ins Freie dürfen, im Wald spielen, im Fluss baden. Mit dieser Hoffnung endet das Büchlein.

Eine wahre Geschichte, doch tatsächlich bewirkten die Dekontaminierungsarbeiten rund um den Kindergarten nicht viel. 

Wieder und wieder säuberten Sadako Monma und ihre Helferinnen und Helfer den Kindergarten, den Hof und den Garten. Bald schlug der Geigerzähler wieder aus, jeder Regen brachte aufs Neue radioaktiven Schmutz und spülte das Cäsium 137 von den Bäumen auf die Erde. Und Sadako Monma stand vor der Frage: Was tun? „Ich musste den Kindern dauernd sagen: Greift das nicht an! Nein, ihr dürft nicht im Garten spielen! Das geht nicht und jenes dürft ihr nicht!“ Irgendwann musste sie sich eingestehen, dass dieser Zustand weder für die körperliche noch für die psychische Entwicklung der Kinder gut ist. Dass es auch für sie kein Bleiben mehr gibt.

Nach und nach zogen die Menschen weg aus Fukushima-Stadt, weg aus der Präfektur Fukushima, vor allem die Mütter mit ihren kleinen Kindern. Und nach und nach blieben auch die Kinder von ihrem Kindergarten weg. Anfangs kamen dreiundzwanzig Kinder zu ihr, ein halbes Jahr nach der Katastrophe nur mehr neun, zwei Jahre später nur mehr drei.

Soramame no iie – „Riesenbohnenhaus“ nannte Sadako Monma ihren Kindergarten im Bezirk Watari in Fukushima-Stadt, nach der alten japanischen Kindergeschichte von den Riesenbohnen, die übers Haus hinauswachsen. Es war ein Waldorfkindergarten, in dem sie und ihre MitarbeiterInnen Kindergartenpädagogik nach der Philosophie des österreichischen Anthroposophen Rudolf Steiner anwendeten: „Die Kinder sollen sich behütet fühlen wie im Mutterleib. Sie sollen Wärme bekommen, Spaß haben, den Geschmack der Dinge genießen.“ Auf Rudolf Steiner stieß die gelernte Kindergärtnerin, als ihr Sohn ein Jahr alt war. Sie war sofort begeistert von diesem Ansatz und machte in Japan eine dreijährige Ausbildung. 1997 eröffnete sie das Riesenbohnenhaus, den ersten und bislang einzigen Waldorfkindergarten in Fukushima.

„Ich esse hiesige Produkte aus Solidarität mit den Bauern“


Und nun hat sie sich mit ihrem Kindergarten in einem alten Bauernhaus im Bezirk Arai eingemietet, am Rande von Fukushima-Stadt, rund zwanzig Minuten Busfahrt entfernt. Rings um den Hof sind Reisfelder und Gemüsegärten. In der Ferne zwei Vulkane mit Schneehäubchen, es sind die Berge Adatara und Azuma. Letzterer heißt eigentlich Azuma Kofuji, kleiner Fuji, weil seine Form an den heiligen Berg Fuji erinnert. Jedes Jahr im Frühjahr erscheint auf dem Berg ein weißer Hase. Dann wissen die Bauern, dass die Zeit zum Aussäen gekommen ist, erzählt man sich. Der schmelzende Schnee, der vom Berghang rutscht, gleicht einem weißen Hasen. Sadako Monma ist an den Fuß des kleinen heiligen Berges gezogen, weil hier die radioaktive Belastung gering ist. Eine sichere Umgebung für Kinder. Bloß gibt es kaum Kinder hier. Hier leben nur alte Menschen und es ziehen keine jungen her. Es ist Bauernland und zum Schutz der landwirtschaftlichen Strukturen besteht Bauverbot.

In einem großen Raum tollen drei Kinder auf dem Boden herum. Das sind Sadako Monmas Kindergartenkinder. In einer Ecke steht ein niedriger Tisch mit winzigen Sesseln davor. Spielsachen. Eine Küche, in der sie ihren Kindern täglich das Mittagessen zubereitet. „Für meine Kinder koche ich nur Reis und Gemüse, die nicht aus Fukushima kommen. Ich gebe ihnen auch kein Wasser aus der Leitung, sondern nur in Flaschen abgefülltes Wasser. Ich selbst habe mein halbes Leben schon hinter mir und esse aus Solidarität mit den Bauern von Fukushima auch Produkte aus der Umgebung.“

An der Wand steht ein Klavier. Darauf wird einige Tage später Toru Nihei, ein junger Musikstudent, ein Konzert spielen, nur für uns beide, im kalten, einsamen Kindergarten. Er ist ein Freund, mit dem Sadako Monma ihre Sehnsucht nach dem fernen Europa teilt, ein Gefährte, der ihre Traurigkeit zu mildern versteht. „Schauen Sie sich seine kleinen Hände an“, wird sie sagen und ihm einen zärtlichen Blick zuwerfen.

Als wir uns in ihrem Büro zusammensetzen, um zu reden, rinnen ihr bald unaufhörlich die Tränen über die Wangen. Sie ist jetzt fünfzig Jahre alt und sie wird neu anfangen müssen, aber sie weiß nicht recht, was und wie. Wie lange sie den Kindergarten unter diesen Bedingungen weiterführen kann? „Ich kann mich nicht damit abfinden, dass es nicht mehr sein wird wie früher. So wie jetzt kann ich vielleicht noch zwei Jahre durchhalten, vielleicht fünf. Länger sicherlich nicht. Aber darüber hinaus kann ich nicht denken. Ich weiß nicht, wo ich hingehen könnte, ich weiß nicht, wo ich leben könnte. Ich werde wohl hierbleiben, in Fukushima.“

„Zuhause in Fukushima. Das Leben danach: Porträts“ ist im Kremayr-Scheriau-Verlag erschienen. Es ist als E-Book (16,99 Euro) und als Buch (22,00 Euro) erhältlich.

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