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Offene Bildungsinhalte - Ein Schulbuch, das keiner versteht

Digitale Lernmaterialien sollen irgendwann das alte Schulbuch ersetzen. Die Bundesregierung treibt die neue Pädagogik mit viel Geld voran. Zwei Studien sollen offenbar nur beweisen, wie erfolgreich die sogenannten „Open Educational Resources“ sind

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Christian Füller arbeitet als Fachjournalist für Bildung und Lernen im digitalen Zeitalter. Zuletzt erschien sein Buch "Die Revolution missbraucht ihre Kinder: Sexuelle Gewalt in deutschen Protestbewegungen". Er bloggt unter pisa-versteher.com. Foto: Michael Gabel

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Stell Dir vor, es gibt ein neues Schulbuch – und keiner versteht es, Lehrer nicht, Eltern nicht, schon gar nicht die Schüler. Auf diesen kurzen Nenner lässt sich ein neues Projekt von Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) bringen, das den Namen „Open Educational Resources“ trägt, kurz OER. Dennoch hat Wanka gerade 750.000 Euro für zwei Machbarkeitsstudien ausgegeben – um die neue Geheimpädagogik voranzutreiben.

Unter „Open Educational Resources“ versteht man alle möglichen Lernmaterialien, die meistens digital sind. Das bedeutet, sie sind für Lehrer einfach zu bearbeiten und weiter zu verteilen: Arbeitsblätter für den Unterricht, Lehrvideos, didaktische Materialsammlungen, auch offene Games- und Quiz-Formate zählen dazu. Die beiden Studien im Auftrag von Bildungsministerin Wanka sollten mehr Klarheit darüber bringen, wie man die neuen Lernmedien unter den 800.000 Lehrern bekannter machen könnte. Denn die kennen vor allem Schulbücher. Allerdings dürfte das Bekanntmachen nicht leicht fallen. Denn die beauftragten Institutionen als auch die Bundesregierung haben aus den vermeintlich offenen Bildungsmaterialien ein elitäres Projekt gemacht.

Offene Lernmaterialien, die extrem schwer lesbar sind
 

So weigerte sich die Sprecherin im Bundesbildungsministerium, Sibylle Quenett, den Auftrag für die Open-Studie herauszugeben. „Leistungsbeschreibung beziehungsweise Auftragstexte“, sagte Quenett zu Cicero-Online, „sind nicht für eine Herausgabe bestimmt“. Diese so genannte Machbarkeitsstudie hat das „Deutsche Institut für pädagogische und internationale Forschung“ (DIPF) in Frankfurt angefertigt. Das Papier handelt zwar von offenen Lernmaterialien – ist aber extrem schwer lesbar. So heißt es in der Zusammenfassung, das DIPF empfehle „die Vernetzung bestehender (Teil‐)Infrastrukturen zu einem Aggregationsmechanismus“. Dies sei nötig, da „die disparat verteilten, abgegrenzte Communitys adressierenden Kollektionen auf der Basis interoperabler Nachweis‐ und Austauschroutinen“ verknüpft werden müssten. Der Direktor des Instituts, Marc Rittberger, verteidigte im Gespräch mit Cicero die Studie. Das Papier richte sich schließlich an das Ministerium – und sei nicht für Eltern, Lehrer oder Bürger bestimmt. Aber, sollten nicht auch die Bürger Lernmedien verstehen, die angeblich „offen“ sind?

Auch die zweite Studie, die heute diskutiert wird, hat ihre Eigenarten. Ausgeführt hat sie die Wikimedia-Stiftung, die eigentlich stolz darauf ist, alle Menschen an Bildungsprozessen teilhaben zu lassen, etwa über das Netzlexikon Wikipedia. Freilich hat an der Studie – genannt Praxisrahmen – nur ein winziger Kreis von Teilnehmern mitgearbeitet. Von den Mitwirkenden wurde berichtet, dass ausgerechnet jene, deren tägliche Arbeit durch die offenen Lernmaterialien erleichtert werden sollte, nicht erreicht wurden: die Lehrer. „Ich war in den Workshops, da waren so gut wie keine Lehrer zu sehen. Die Leute von Wikimedia waren da auch ratlos“, sagte ein Teilnehmer. Andere bestätigen den Lehrermangel. Insgesamt veranstaltete Wikimedia fünf Workshops, die ausgesprochen dünn besucht waren. Zwei Dutzend Teilnehmer zählten Mitwirkende, ein Sprecher von Wikimedia spricht von „rund 30 Teilnehmern“.

Die Wikimedia-Studie - ein Fall für den Rechnungshof?
 

Trotz der geringen Reichweite der Workshops verschlang das Projekt insgesamt rund 600.000 Euro. Eine gigantische Summe, wenn man bedenkt, welche Leistungen dafür erbracht wurden: Fünf kleine Workshops, eine Fachkonferenz, ein Buch – und eine Webseite. Kaum hatte Wikimedia den Auftrag erhalten, tauchten kritische Fragen auf, selbst in der Szene der Digitallehrer, die offene Lernmaterialien befürwortet. Auf dem Wikimedia-Blog wollte man wissen, „wie es dazu kam, dass ihr diese finanziellen Zuweisungen erhalten habt?“ Vor allem die Lehrer vom „Zentrum für Unterrichtsmedien im Internet“ (ZUM) waren vor den Kopf gestoßen. „Wir haben uns gewundert“, sagt Karl Otto Kirst, der ZUM-Vorsitzende, einem Verein, der seit 20 Jahren Lehrern im Netz offene Lernmaterialien zur Verfügung stellt – und der mit den 600.000 Euro massenhaft Bildungsmedien hätte erstellen können.

In der Tat könnte es für den Rechnungshof eine spannende Aufgabe werden, das Zustandekommen des Zuschusses an Wikimedia nachzuvollziehen. Öffentliche Aufträge jenseits von 134.000 Euro bedürfen laut EU-Recht eigentlich einer Ausschreibung. Die Sprecherin des Bildungsministeriums teilte Cicero mit, „dieses Papier ist das Ergebnis eines beantragten und von BMBF geförderten Projektes“. Ein Bruch des Ausschreibungsrechts liege daher nicht vor. Das BMBF habe auch keinen Einfluss genommen. Seltsam nur, dass mehrere Beteiligte den Hergang anders schildern. Zunächst sei das Ministerium auf Wikimedia zugegangen und habe gefragt, ob die Open-Lobbyisten ein solches Projekt machen wollten. Erst dann stellte Wikimedia einen Antrag – und bekam den Zuschlag im Wert von mehr als einer halben Million Euro.

Kritik vom Klett-Verlag
 

Der Schulbuchverleger David Klett stellt die Summe des Projekts und das ganze Verfahren infrage. „Beim BMBF scheint man sich schon entschieden zu haben, OER für eine tolle Sache zu halten. Warum sonst sollte man ohne Ausschreibung gleich Wikimedia mit der Frage beauftragen, wie man zukünftig noch mehr Steuergelder dafür ausgeben kann?“, sagte er gegenüber Cicero.

Ganz falsch liegt Klett damit wohl nicht. Das Bildungsministerium hat bereits weitere Mittel für offene Lernmaterialien ausgeschrieben. Und das geschah übrigens, bevor die beiden Machbarkeits-Studien von DIPF und Wikimedia überhaupt veröffentlicht waren. Wollte Bildungsministerin Wanka etwa gar nicht wissen, was in den teuren OER-Gutachten für sie drin steht?

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