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(picture alliance) Wer keine Bachfuge von einer Mozartsonate unterscheiden kann ist kein Bürger.

Möchtegern-Elite - Öko-Konsum bedeutet nicht Bürgertum

Mülltrennung, Solarkollektoren, Nachhaltigkeit gehören zur typisch deutschen, ideologischen Maskerade des Möchtegern-Bürgertums. Dabei definiert sich wahres Bürgertum über den Geist, nicht über das Materielle

Autoreninfo

Konstantin Sakkas, geb. 1982, ist freier Autor und schreibt u.a. für Die Zeit und den SWR.

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Im neuen Buch von Christian Thielemann las ich kürzlich den Satz: „Das Wort ‚gutbürgerlich’ bedeutete in meiner Jugend nicht nur den Majoran zu Weihnachtsgans, sondern Bach, Beethoven, Brahms, Bruckner.“ Man muss kein unbedingter Fan von Thielemann sein (und nein, ich bin es auch nicht!), um doch den Kern Wahrheit herauszufischen, der in diesem Satz liegt. Bürgerlichkeit definiert sich nämlich nicht übers Materielle, sondern über den Geist. Das ist nicht nur kultiviert, es hat auch einen sozialen Hintergedanken. Geistige Kultur nämlich kostet nichts. Sie ist die einzige legitime Wurzel des Bürgerlichen.

Das hat auch historische Gründe. Die moderne deutsche Bürgerlichkeit, die zum Vorbild für ganz Europa wurde, hat ihre Ursprünge im 18. Jahrhundert. Die Kultur der deutschen Klassik und Romantik, ob in Literatur, Malerei oder Musik, ist hervorgegangen aus klein- und kleinstbürgerlichen Verhältnissen. Im Deutschland des späten Ancien Régime gab es, anders als in den reichen Nachbarstaaten Holland, Frankreich und England, kein relevantes Besitzbürgertum; die Blüte des deutschen Geistes wuchs empor aus weitgehend mittellosen Pastoren-, Schulmeister- und Handwerkerhaushalten. Das aber gab ihr erst ihren Schwung und ihre Größe, der bald ganz Europa begierig nacheiferte.

Das Bürgertum heute, das inzwischen 90 Prozent der Gesellschaft umfasst, hat sich hiervon weitgehend entfernt. Bürgerlichkeit ist ursprünglich und wesenhaft etwas Auratisches, heute wird sie ideologisch definiert. Schon das ist falsch. Bürgerlich ist nicht, wer für oder gegen einen Bahnhofsneubau auf die Straße geht (wobei das ein legitimes politisches Anliegen ist, zumal Stuttgart 21 tatsächlich ein großer Schwindel ist), sondern wer einen Sinn hat für das, was das Leben im Innersten ausmacht und erhält: für das Schöne.

Ebenso wenig lässt sich Bürgerlichkeit über Konsum oder Besitz definieren. Durch laktosefreie Milch und Solarkollektoren auf dem Dach kann man sich weder Moral noch Kultur kaufen. Nachhaltigkeit ist eine Ideologie, nicht die schlechteste vielleicht, aber keine bürgerliche Haltung. Doch das ist typisch deutsch: die ideologische Maskerade, mit der man sich Absolution von seinen Moral- und Kultursünden erhofft, quasi ein Emissionshandel im Privaten. Die Mülltrennung ist das reinigende Ritual einer gottlosen Gesellschaft, das täglich vollzogen werden muss, auch wenn jeder im Ort weiß, dass der Abfall in der nächsten Kreisstadt ja doch zusammengekippt und verbrannt wird (und, o Wunder, die Wälder sind immer noch nicht gestorben und die Weltmeere sind immer noch nicht über die Küstenufer getreten). Doch das zählt für den Ökospießer von heute nicht. Was zählt, ist nicht der Geist, sondern der Buchstabe des Gesetzes, dem sich so bequem gehorchen lässt, weil es so viel leichter ist, Papier von Plastik zu trennen, als endlich seinem Mann zu sagen, dass man seit zwei Jahren fremdgeht, oder mal damit aufzuhören, die eigenen Kinder zu schlagen.

Kultiviert ist nicht, wer Kalorien zählt und „nur Bio“ kauft (was, wie wir wissen, weder besonders gesund noch schön macht und ohnehin eine Veranstaltung für Besserverdienende ist), sondern wer genießen kann: ob es nun Boeuf Hohenlohe ist oder ein Hamburger. Dass die meisten so genannten Bürger von heute keine Bürger sind, sieht man am besten daran, dass sie nicht mehr frei handeln können (war im ursprünglichen Sinne, in der griechischen Polis nämlich, den Kern von Bürgerlichkeit ausmachte), sondern dass sie nicht mal mehr einen Bleistiftanspitzer kaufen können, ohne mit dem Verkäufer eine halbe Stunde lang über den Holzgehalt zu diskutieren.

Daran übrigens, einfach den Konsum einzuschränken, denkt keiner dieser Möchtegern-Bürger; dabei wäre das der direkte Weg zu mehr Nachhaltigkeit und der einzige Weg zu echter Bürgerlichkeit: die Beschränkung auf das, was einem gefällt und gut tut und was man wirklich braucht. Wenn man endlich einsähe, dass eine Tasse Kaffee am Morgen vollkommen ausreicht, könnten wir uns den ganzen Fair-trade- und Green-wave-Zirkus sparen.

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Wer wissen will, wie echte Bürgerlichkeit aussieht, schaue sich mal ihre historischen Ursprünge an: Als Friedrich der Große Ende 1759 vor den ihn bedrängenden Alliierten im verschneiten Leipzig Zuflucht nahm, hatte er nichts Eiligeres zu tun, als sich mit Christian Fürchtegott Gellert zu treffen. Der damals berühmteste Dichter deutscher Zunge lebte in einem armseligen Zimmer und bekannte freimütig, die einzige Reise seines Lebens habe ihn nach Berlin geführt. Man muss sich das vorstellen: der König von Preußen und Oberbefehlshaber einer Armee von 150.000 Mann hat mitten im Krieg nichts Besseres zu tun, als sich mit diesem armen Männlein, dessen Verse indessen in ganz Europa gelesen wurden, zu verabreden und sich mit ihm über Homer und Tacitus zu unterhalten.

Immanuel Kant, der die abendländische Philosophie revolutionierte, hockte sein Leben lang in seiner Junggesellenwohnung in Königsberg. Aber er wurde gelesen vom reichen Landadel, von Fürsten, Königen und Kaisern. Sein Schüler Johann Gottlieb Fichte war ein Bauernkind, das dank fürstlichem Stipendium nach Schulpforta kam. Und Friedrich Schiller, der die großartigsten Dramen hinterlassen hat, die in deutscher Sprache geschrieben wurden, blieb zeit seines Lebens ein armer Schlucker, der sich abwechselnd von seinen Gönnern und seinen Freundinnen (bzw. deren Müttern) Geld pumpen musste. Einzig Goethe, der Frankfurter Patriziersohn, fällt aus diesem Schema: die berühmte Ausnahme, die die Regel bestätigt.

Selbst der dichtende Adel war selten vermögend, Heinrich von Kleist etwa bettelte abwechselnd seine Tante und die Königin Luise um ein paar Taler an und erschoss sich schließlich auch deshalb, weil es hinten und vorne nicht reichte. Und in Frankreich? Da war es nicht der reiche Sack Voltaire, sondern Rousseau, das arme Würstchen, der Frankreich und ganz Europa in die Revolution führte – das ewige Waisenkind aus der Schweiz, chronisch klamm, lebenslang angewiesen auf Wohltäter und mehr noch Wohltäterinnen, die ihn in der Einsamkeit seine Werke schreiben ließen, die die Welt verändern sollten.

Aus dieser materiellen Enge heraus erwuchs das imposanteste Kulturleben, das unser Zeitalter überliefert, und es konnte nur deshalb die ganze Gesellschaft, Arme und Reiche, bis heute erfassen, weil es ganz Geist war, weil die so genannte „materielle Kultur“ in ihm keine Rolle spielte und auch nicht spielen sollte. Kultur war Konsumersatz, und sie war allen zugänglich: Alles, was man dazu brauchte, war Bildung, und die wurde mehr und mehr zum Allgemeingut, auch dank Herrschern wie eben Friedrich, der in seinem besseren Landhaus Sanssouci zwar ganz unkönigliche Tischsitten pflegte, bei denen der englischen Gentry vor Schreck der Löffel in den Tee gefallen wäre, der aber selbst im schäbigsten Feldhauptquartier Epigramme schrieb und Flötensonaten spielte, die sich die Wache vor der Tür dann anhören durfte.

So wurden im 19. Jahrhundert Kultur und Bildung nicht nur zum Schlüssel des Aufstiegs – nein, sie waren ein Selbstzweck, ein Besitz, den man um seiner selbst willen pflegte und der den Kern dessen ausmachte, was man bürgerlich nennt.

Wenn nun heute Familien ihre vermeintliche Gutbürgerlichkeit dadurch ausweisen wollen, dass sie ihre Lebensqualität an (hässlichen) Sportfahrrädern, (noch hässlicheren) Designermöbeln und (besonders hässlicher) Outdoor-Kleidung festmachen, mit der sie dann möglichst oft möglichst weit weg in den „Erlebnisurlaub“ fahren, so entlockt mir das nicht mal ein müdes Lächeln. Wer sich über Mülltrennung, den Induktionsherd (beziehungsweise den Flachbildfernseher) und die Espressomaschine definiert, aber keine Bachfuge von einer Mozartsonate unterscheiden kann und weder das Vaterunser noch das Avemaria beherrscht, ist kein Bürger.

Aber dem Taxifahrer neulich, der auf der Fahrt seelenruhig das frühe d-Moll-Konzert von Mendelssohn mit Gidon Kremer hörte, hätte ich am liebsten ein Trinkgeld von 100 Euro in die Hand gedrückt. An diesem Mann sollten sich all jene, die so gerne bürgerlich sein wollen, ein Beispiel nehmen!

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