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(Kristin Loschert) Berlins Cocktailkirsche – Der Funkturm am Alex

Berlin Roman „Walpurgistag“ - Oben, unten und retour

Die Schriftstellerin Annett Gröschner ist eine der besten Kennerinnen der Hauptstadt. In ihrem Roman "Walpurgistag" baut sie ihr ein literarisches Denkmal aus irrlichternden, absonderlichen und abenteuerlich normalen Lebensgeschichten
 

Ausgerechnet die Straßenbahn verzögert Annett Gröschners Ankunft im kleinen Café am Savignyplatz, dabei kennt sich doch kaum jemand so gut wie sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln aus: Für ihre Reportagen auf den «Berliner Seiten» der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» kurvte sie zwischen 1999 und 2002 mit Bussen und Bahnen kreuz und quer durch die Stadt. Doch nun hat sich an ihrer Haus-Straßenbahnlinie plötzlich eine Baustelle aufgetan, ein Riesenumweg entsteht – Berlin eben.

[gallery:Alexanderplatz – ein Spiegel Berlins]

Annett Gröschner, 1964 in Magdeburg geboren, lebt hier seit 1983, und sie ist Berlinerin aus Passion. «Ich glaube, ich bin nur aus Versehen nicht in Berlin geboren», sagt sie. «Auch Franz Hessel oder Alfred Döblin stammen ja nicht von hier. Die hat es alle irgendwie hierher gespült, wie mich auch.» Immer wieder kreisen ihre Bücher, Essays, Features und Ausstellungsprojekte um diese Stadt, insbesondere um deren östliche Bezirke, auch die von Gentrifizierung und sozialem Abstieg gleichermaßen bedrohten Stadtteile Wedding, Neukölln und Kreuzberg kommen vor. «Das ist das Berlin, das mich am meisten interessiert», sagt sie, auf die Ost-West-Unterscheidung kommt es inzwischen gar nicht mehr so sehr an. Die Trennungslinie verläuft für Annett Gröschner vielmehr zwischen dem «Oben-und-unten-Berlin». Und dies, vor allem aber das «Unten», spielt auch die Hauptrolle in ihrem neuen Roman «Walpurgistag».

Alles beginnt am Alexanderplatz, und die erste Figur, mit der der Leser bekannt wird, trägt denselben Namen wie der Ort: Alex – ein Stadtstreicher mit undurchsichtiger Vergangenheit. Früher einmal will er ein Frauenverführer in Diensten der Staatssicherheit gewesen sein, dann wieder DDR-Standesbeamter im Berolina-Haus, mal dies, mal das. Aber jetzt, während er sich die kalte Nacht zum 30. April unter der Weltzeituhr durch beherzte Sprünge zwischen Phnom Penh und Helsinki verkürzt, machen die Polizisten Bartuschewski und Gottfried Jagd auf ihn: «Herr von Alex, nach ASOG § 29 Absatz 2 ist Ihnen verboten, sich auf dem Alexanderplatz aufzuhalten.» Und während die Ordnungshüter den Mann mit dem schweren Rucksack in ihren Polizeiwagen verfrachten und im Grunewald aussetzen, hat der Roman die Szene, auf der sich alles Weitere abspielen soll, mit grandioser Geste eröffnet.
Denn natürlich steht «Walpurgistag» in literaturgeschichtlicher Beziehung mit Alfred Döblins «Berlin Alexanderplatz» aus dem Jahr 1929, Annett Gröschner zeichnet ihrem Roman diese Linie mit dem doppelten Alex des Anfangs wie eine Leuchtspur ein.

Auch bei ihr geht es in 78 Kapiteln um die ärmeren Leute – um aus der Gesellschaft Gefallene wie Alex, seine Freundin Annja Kobe und den ehemaligen Gewichtheber Aki, um drei Rentnerinnen, die gar nicht daran denken, sich dem depressiven Dasein in einem Altersheim am Prenzlauer Berg zu ergeben, um einen Gasableser und einen Taxifahrer, eine Lehrerin und deren Freundin, die sich als Dramaturgin in abstrusen Theaterprojekten betätigt, um den kleinen Sohn einer alkoholabhängigen Malerin, eine Pizzafahrerin und drei türkische Straßengang-Mädels und schließlich auch um ein Hündlein namens Stalin, das in der Nacht zum 1. Mai unter einem Wasserwerfer sein Leben lässt. Nicht eine zentrale Lebensgeschichte wie diejenige des Döblin’schen Franz Biberkopf wird hier also erzählt. Insgesamt 25 Personen bewegt Annett Gröschner vielmehr durch den 30. April des Jahres 2002, Stunde für Stunde, Augenblick für Augenblick – ihren Wegen durch die Stadt zu folgen, wäre ein literatur-touristisches Abenteuer der Extraklasse.

Denn hier eröffnet sich ein Berlin, das alsbald über die Zone der bekannten Sightseeing-Highlights hinausragt. Werden diese touristischen Leuchttürme aber berührt, laden sie sich mit einer Art von Leben auf, von dem sich der normale Besucher, ja, selbst der durchschnittliche Stadtbewohner nichts träumen lässt. Nicht kriminelle Einzeltäter, sondern drei leicht beschwipste alte Damen zünden da ein Hausbesitzer-Cabrio an, der Gasableser, gekommen, um in einer hochherrschaftlichen West-Wohnung wegen unbezahlter Rechnungen die Gasleitung abzuknipsen, wird Teil einer therapeutischen Familienaufstellung, ein von seiner Mutter vernachlässigtes Kind sieht ein anderes in einem Kleidercontainer verschwinden, eine Frau zieht mit einer Tiefkühltruhe, in der ihr Vater liegt, in eine aufgegebene Wohnung in Lichtenberg, eine andere verliert über Nacht ihre Identität – lauter ineinander verschlungene Einzelschicksale, die sich im Verlauf des Romans zu einem Panorama des heutigen Berlin fügen. In der Krawallnacht zum 1. Mai schließlich wird es von allerschönstem Feuerzauber angestrahlt, und was da dann leuchtet, ist nicht das hippe Neu-Berlin. Es ist eine Stadt, deren Geschichte der letzten achtzig Jahre sich aus Aberhunderten von Alltagsgeschichten zusammensetzt, die dem gestaltlosen Gewimmel erst Struktur und Zusammenhalt geben: Charakter.

Dabei fragt sich allerdings nicht nur, wie eine Autorin dieses weitgreifende Gespinst aus Figuren und Ereignissen zusammenhält. Es fragt sich zuallererst, wie sie überhaupt an ihr Material gelangt ist. Denn Annett Gröschner ist als Autorin zunächst einmal Rechercheurin: Erst kommt die Erhebung der Fakten, dann die Erfindung. «Das Ulkige ist», sagt sie nun im Mittagslärm des Kaffeehauses, «dass ich das alles zweimal machen musste. Ursprünglich hatte ich das Projekt für den 14. September 2001 geplant. Fest stand: Der Tag, aus dem der Roman hervorgehen sollte, durfte kein Tag im Hochsommer sein – es sollten nicht nur Touristen in der Stadt sein, die Leute sollten nicht nur auf ihren Datschen sitzen, es musste relativ warm sein und am besten ein Freitag.

Da sind die Leute abends entspannt, sie unternehmen was, gehen durch die Stadt. Und alles, was ich erzählen wollte, sollte wirklich passiert sein. Also habe ich in Zeitungen und Rundfunkanstalten einen Aufruf gestartet: Möglichst viele Leute sollten ihren Tagesablauf am 14. September 2001 beschreiben; auch zur Polizei hatte ich Kontakt aufgenommen. Aber dann kam der 11. September. Und der 14. war ein Tag, wie ich ihn in Berlin noch nie erlebt habe. Die Stadt war vollkommen still und so verlangsamt, dass es noch nicht mal Unfälle gab. Eine Pro-Amerika-Demonstration fand statt, zu der viele Leute gingen, der Verkehr wurde umgeleitet, aber sonst passierte nichts. Und ich saß vor den Trümmern meines Projekts.»

Erst Ende April des folgenden Jahres konnte es nach den selbst gesetzten Regeln neu losgehen, alles noch mal von vorn: Rundfunksender, Tageszeitungen, Polizeibericht, und nach und nach trudelten die Reaktionen auf den Aufruf ein. «Einer fuhr mit dem Fahrrad durch die Stadt, eine alte Frau berichtete, ihre Kaffeemaschine aus DDR-Produktion sei kaputtgegangen, sie selbst aber habe immer im Westen gelebt. Eine Pizzafahrerin aus Cottbus erzählte von ihrer Tour und ihren Kollegen – die findet sich jetzt in einer Romanfigur wieder, die in Berlin Pizza ausfährt.»

Alles also war bestens eingefädelt, und wie aus all dem Material mitsamt noch zusätzlich Recherchiertem am Ende ein Roman werden sollte, war Annett Gröschner ebenfalls von Anbeginn klar: Die 24 Stunden des 30. April gaben die Kapitel-Struktur vor, die räumliche Begrenzung der Handlung bildete der S-Bahn-Ring. «Aber dann habe ich gemerkt», fügt sie hinzu, «was für einen Tag ich da eigentlich vor mir hatte. Der Tag vor dem 1. Mai ist ja von Mythen aller Art besetzt – die Walpurgisnacht, Goethe –, und als ursprünglich feministischer Tag hatte er außerdem in Berlin einen Paradigmenwechsel erlebt: In den neunziger Jahren haben wir Frauen im Prenzlauer Berg noch selbst die Feuer gemacht. Aber dann kamen die Autonomen und machten die größeren Feuer; seitdem stehen sie im Fokus.»

Von der gemischten Feuer-Gesellschaft der Berliner Walpurgisnacht zeigt der Roman jetzt ein buntes Spektrum, das von Kindern über alte und junge Frauen verschiedener Nationalität und Männern in unterschiedlicher Geistesverfassung bis zu den Zusammenstößen krawallseliger Jugendlicher mit der Polizei reicht. Der mythische Hintergrund der Walpurgisnacht aber hat sich ganz in der Figur des wohnungslosen Alex gebündelt, einer Art Mephisto, der seine eigene Geschichte immer wieder anders erfindet und die übrigen Personen und ihre Fährnisse am Ende in seinem Rucksack verschwinden lässt wie ein Puppenspieler nach getaner Arbeit.

Die eigentliche Puppenspielerin des «Walpurgistags» aber ist natürlich die Autorin. Reale Ereignisse und Lebensläufe aus Interviews und Berichten hat sie auseinandergeschnitten, gemixt und dann neu wieder zusammengesetzt. «Ich arbeite so viel dokumentarisch», erklärt sie, «und wenn ich einen Roman schreibe, muss ganz klar werden: Das ist jetzt nicht die Wirklichkeit!» Sie lacht und erzählt, wie das Buch konkret entstanden ist: «Ich denke beim Romanschreiben immer grafisch. An einer großen Wand hänge ich Papierrollen auf. Darauf male ich mir einen Zeitstrahl und trage die Figuren ein, mit allem Drum und Dran: Augenfarbe, Frisur, Anzahl und Alter der Kinder, Katzen.

Auf ein weiteres Blatt schreibe ich, was an dem Tag für Wetter war, Sonnenaufgang, Sonnenuntergang, was für Veranstaltungen es gab, dazwischen kleben Ausschnitte aus dem Stadtmagazin. Und trotzdem entwickelten sich die Figuren dann ganz anarchisch. Die drei alten Frauen zum Beispiel waren zuerst brav, eigentlich ziemlich traurig, aber dann fingen sie an, ein Eigenleben zu führen und radikalisierten sich – das war mir vorher noch nie passiert.»

Bei der präzisen Verortung der Ereignisse in der Wirklichkeit dagegen gibt es kein Vertun, selbst die längst pleite gegangene Kaffeemaschinenfabrik in Schöneweide, deren orangefarbenes DDR-Produkt wie ein Ost-West-Symbol durch den Roman wandert und schließlich bei einer türkischen Familie im Wedding landet, hat Annett Gröschner ausfindig gemacht. Zeitaufwendig ist so ein Unterfangen. Und umso schwieriger, wenn die Autorin alleinerziehende Mutter ist und zu allererst für den Lebensunterhalt sorgen muss. «Diesen Roman zu schreiben, hat mich fast ruiniert», sagt sie. «Außer dem Berlin-Stipendium bekam ich keine Stipendien: Wenn, wie bei mir, zwischen zwei Romanen etliche Jahre vergehen, gehört man für die Stipendiengeber nicht mehr dazu. Entweder man schreibt Romane, dann ist man Schriftstellerin. Oder man macht so viele verschiedene Sachen wie ich, dann ist man nicht mehr präsent, ganz egal, wie viel man inzwischen geschrieben hat. Ich bekam existentielle Probleme und fing schließlich als Dozentin an der Uni Hildesheim an – wodurch alles dann natürlich noch viel länger dauerte.»

Auch ein Verlagsvertrag war nicht so leicht zu bekommen, denn den Verlag «Volk und Wissen», in dem ihr hinreißendes und viel gelobtes Debüt «Moskauer Eis» im Jahr 2000 erschienen war, gab es inzwischen nicht mehr, einem neuen hätte sie den Roman-Anfang vorlegen müssen – «aber ich hatte nur ein, zwei Kapitel aus der Mitte und den Schluss». Schwierigkeiten sind dies, die sich im Laufe des Schreibprozesses von allein erledigen – wenn denn zum Schreiben einigermaßen Zeit und Ruhe vorhanden sind. Gerade die aber scheinen in Annett Gröschners Autorinnenleben nicht vorgesehen. Ellenlang ist die Publikationsliste auf ihrer Website, und soeben hat sie ihre Unter den Linden gezeigte Ausstellung «Aus anderer Sicht. Die frühe Berliner Mauer» abgebaut.

Hier präsentierte sie zusammen mit dem Fotografen Arwed Messmer auf 342 Panoramen die Mauer aus der Perspektive ihrer Erbauer, Kunstwerk und Dokumentation zugleich; der Katalogband wurde im Herbst 2011 mit dem «DAM Architectural Book Award» ausgezeichnet. Und jetzt ist das Semester in Hildesheim wieder angelaufen, bald wird es Studenten-Arbeiten hageln, die korrigiert und benotet werden müssen, daneben laufen die Lesungen aus dem neuen Roman – und natürlich sind schon die nächsten Projekte in Arbeit. Eines davon führt die Autorin seit dem Jahr 2002 in alle möglichen Weltgegenden: Sie fährt dort mit Bussen oder Straßenbahnen der Linie 4 durch die Stadt, eine zweistündige Tour etwa durchmisst New York von Manhattan bis zu den Cloisters, einmal kreuz und quer durch alle sozialen Schichten. Nur Jerusalem und Peking fehlen in der Sammlung noch. Die aber müssen warten: Im Moment mangelt es für Fahrten mit der Linie 4 um die Welt an Geld.

Berlin freilich bleibt das unangefochtene Zentrum, im Leben Annett Gröschners wie in ihrer Literatur. Auch Annja Kobe, unerschrockene Heldin in «Moskauer Eis», ist mit ihrer Autorin von Magdeburg inzwischen hierher umgezogen: Im «Walpurgistag» taucht sie mit ihrem Vater, der sich 1991 selbst in seiner Tiefkühltruhe eingefroren hatte, wieder auf. Gestohlene Papiere in der Tasche, zieht sie von einer Abriss-Wohnung zur nächsten, denn die Polizei vermutet, der Vater sei ermordet worden, Annja zählt zu den Verdächtigen. In Berlin nun ist sie Alex’ besonderer Schützling, der hyperaktive Gewichtheber Aki schleppt die Truhe samt Vater von einem illegalen Wohnquartier zum anderen. «Moskauer Eis», sagt Annett Gröschner, sei ihr autobiografischstes Buch, obwohl bei ihr daheim gewiss kein Toter im Heimfroster liegt.

Vielmehr verwandeln sich ihre eigenen Erfahrungen je nach dem Medium, in dem sie verarbeitet werden. Aus der frühen Berufstätigkeit als Ankleiderin am Magdeburger Theater entwickelte sich dreißig Jahre später eine Reportage über die Ankleiderinnen am Deutschen Theater, aus ihrer freien Mitarbeit an Frank Castorfs Berliner Volksbühne wird im neuen Roman eine beklemmend komische Szene, in der die Dramaturgin Viola Karstädt ihr vorübergehendes Schlafquartier bei einer so grauenhaften wie anrührenden Familie in Neukölln aufschlägt. Die verschiedenen Formen und Projekte in diesem vielgestaltigen Lebens-Werk ergänzen einander, sie treiben sich gegenseitig voran – dass es der Autorin scheint, ihr Tag habe «zu wenige Stunden, es müssten eigentlich 26 sein, manchmal auch 30», dürfte niemanden verwundern.

Nachdem unser Treffen standesgemäß mit einer S-Bahn-Fahrt in Richtung Alexanderplatz geendet hatte, flatterte am nächsten Tag eine E-Mail in den elektronischen Postkasten, im Anhang ein Blatt mit sechs eng gerasterten Feldern. In verschiedenen Farben sind darin die Hauptpersonen und ihre Wege im «Walpurgistag» eingezeichnet, Pfeile und Kreise stellen die Verbindungen her – die verkleinerte Wiedergabe dessen also, was während der Entstehung des Romans auf Papierrollen an Annett Gröschners Wand hing. In der E-Mail war zu lesen: «Und dann fiel mir noch ein, warum ich so viel mache: Es ist nur deshalb so viel, weil ich immer nur Projekte mache, die ich wirklich machen will. Und da die immer am schlechtesten bezahlt sind, bin ich gezwungen, an mehreren Sachen gleichzeitig zu arbeiten. Was dann wahrscheinlich das Leben verkürzt. Aber sei’s drum.» Wer Annett Gröschners Bücher gelesen hat, weiß, dies ist keine Klage, sondern ein augenzwinkerndes Daseins-Stenogramm. Dessen Thema ist uns aus ihrem Werk wohlbekannt: ein nicht ganz gewöhnliches Leben in Berlin.

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