Bücher des Monats - Nur nicht die Contenance verlieren

Wie der spätere «Rote Graf» seine Selbsterziehung zum Ästheten verfolgte

Alles, was bisher an Zeugnissen über das Leben des jungen Harry Graf Kessler ans Licht gekommen ist, scheint die Annahme zu bestätigen, dass die intellektuelle Pubertät wie eine Nuss das spätere Leben enthält. Der erste erschienene Band einer auf sechs Bände angelegten Ausgabe der Tagebücher Kesslers dokumentiert die Lebensspanne zwischen 1892 und 1897; die biologische Pubertät des 1868 Geborenen liegt damit schon um einige Jahre zurück. Dass dies hingegen die entscheidende Phase für die Initiation in all die Tätigkeiten ist, mit denen sich der Sohn eines Hamburger Bankiers und einer irischen Adeligen in die Kulturgeschichte seiner Zeit eingeschrieben hat, wird auf fast jeder der rund 500 Seiten deutlich: Vor unseren Augen entsteht «The Portrait of a Dandy as a Young Man».
 
Kesslers erste Bildungseindrücke reichen ins auslaufende 19. Jahrhundert zurück; nach Internatsjahren in Paris und London sowie einem Jura-Studium in Bonn und Leipzig hatte er 1894 promoviert. Bereits gegen Ende der Studienzeit beginnen sich aber in den Wahrnehmungen und Vorlieben, Interessen und Lebensumständen des jungen Mannes all jene Züge auszuprägen, die ihn sehr entschieden als einen Mann des 20. Jahrhunderts erkennen lassen.
 
Die Modernisierung des Dandys Dabei lesen sich nicht wenige seiner Auffassungen und Verhaltensweisen wie eine wilhelminische Variante des europäischen Dandyismus: die Ansicht, dass «eine deutsche Kultur sich nur auf einen deutschen Ofziersstand gründen» könne; der Eifer, mit dem Kessler seit seiner Übersiedlung nach Berlin 1893 für alle Art von Geselligkeit das Register des Gotha durchzuarbeiten und im Tagebuch gewissenhaft zu kopieren scheint; die Penetranz, mit der er den ästhetizistischen Kult der Oberfläche auf Kosten jeder intimeren Selbstmitteilung zelebriert, egal ob in Afrika, Indien, China, den USA oder Mexiko, von Europa ganz zu schweigen. Gegenüber dem zeitgenössischen europäischen ist Kesslers Dandytum vermindert um die demonstrativ immoralische Ruchlosigkeit der Tradition zwischen Baudelaire und Barbey d’Aurevilly. Bereichert ist sie um einen rastlosen, dem Bürgertum nacheifernden Bildungsfleiß, den die wirklichen oder literarischen Helden dieses Genres von Lord Brummel über Des Esseintes bis Dorian Gray nicht aufbringen. 
 
Nach Erscheinung und Begriff gehört der Dandy ins 19. Jahrhundert. Lebensform und Tätigkeiten des Grafen Kessler sind durch den Versuch geprägt, diesen Typus in eine zeitgemäße Form zu überführen – vielleicht nur der von Kessler 1928 in einem meisterhaften Großessay portraitierte Walther Rathenau hat dazu noch mit derselben Entschiedenheit beigetragen. Beide verbindet die Anstrengung, die durch Philisterei kompromittierten moralischen Inhalte in den Formenkanon einer rückhaltlosen Dienstbarkeit zu überführen: Rathenau auf ökonomischem Gebiet, Kessler im Kunstbetrieb, beide auf geheimdiplomatischer und politischer, mäzenatischer wie schriftstellerischer Ebene. 
Mit äußerster Disziplin und einem Ethos permanenter Selbstüberbietung erfüllen Kessler und Rathenau an jedem Platz, an den es sie verschlägt, ihr Pensum. Ja, man wird den Verdacht nicht los, dass ihr Bekenntnis zum Preußentum in erster Linie dem Impuls folgt, ihrem absoluten Formbegehren ein öffentlich vorzeigbares Gesicht zu geben. Die Bewährung an jedem Ort, Beweis für die Überlegenheit der vollendeten Form über die Hinfälligkeit moralischer Inhalte, verbindet sich mit der Immunisierung gegen den Schmerz vermeintlicher Niederlagen: Unterlegen wäre erst, wer die Contenance verliert. Die Schauplätze, die für junge Männer noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein schicksalhaft wirkten, waren Liebe und Beruf. Dem Grafen droht der Absturz in der Liebe, und nirgends in diesen fünf Tagebuch-Jahren hat sein stoisches Formgefühl eine triftigere Probe zu bestehen als bei dieser Gelegenheit. Dass sie auch zur Bewährungsprobe für Kesslers Herausgeber wird, haben diese selbst sich zugemutet. 
 
Erheiternd die besondere philologische Akribie, mit welcher einer von ihnen in der Einleitung zum Tagebuch die erotische Biograe Kesslers behandelt sehen will. Auf drei Seiten wird dort dessen Freundschaft mit dem jungen Otto von Dungern kommentiert, dem engsten Freund in diesem Lebensabschnitt. Gewissenhaft kommt das Beisammensein bei jeder sich bietenden Gelegenheit zur Sprache («ein unzertrennliches Paar, das sich Stube und Zelt teilte»), das nächtliche nackte Baden, «die zeitweise geradezu symbiotisch erscheinende Beziehung der beiden». Ausdrücklich zitiert wird auch der Eintrag Kesslers vom 5.10.1896, der die Heirat des Freundes als einen «Abgrund in der Freundschaft» bezeichnet: «Es ist schwer, Gedanken- und Herzensgewohnheiten, die fast vier Jahre lang der ruhende Pol in aller seelischer Erscheinungen Flucht gewesen sind, aufzugeben; Mann und Frau sind ein neuer psychologischer Organismus, der den früheren Menschen, den man geliebt hat, zerstört; es tritt so für die Freundschaft eine Art von Tod ein, bei dem es fraglich bleibt, ob ihm eine Auferstehung folgen wird.» 
 
«Verlässt man sich auf die Fakten», so wehrt der philologische Beobachter gleichwohl alle Gerüchte über die Homosexualität des lebenslangen Junggesellen Kessler als ungesicherte Vermutungen ab, «so pflegen Kessler und Dungern eine enge freundschaftliche Beziehung.» So kann man es auch sagen. Zu dieser ulkigen Halsstarrigkeit passt dann auch, dass die willkommene Nähe der Berliner Hauptstadt für den in Potsdam kasernierten Einjährig-Freiwilligen zwar im Hinblick auf seine zahlreichen Galerie-, Konzert- und Theaterbesuche bemerkt wird, die stereotypen Einträge «Römisches Bad» aber unerwähnt bleiben.
 
Auch bei anderen Gelegenheiten meidet Kessler aber Exhibition und Indiskretion – aus stilistischen Gründen, aber wohl mehr noch aus Angst vor Kontrollverlust. Einmal nur, am 5.6.1896, notiert er: «Ich habe geweint wie ein kleines Kind»; der Anlass ist Shakespeares «Henry IV.» in London.
Arbeit an der eigenen Sinnlichkeit Seine Reise um die Welt Anfang der neunziger Jahre tritt Kessler analog zur Kavalierstour des Adligen alten Typs an. Dem entspricht das Protokoll der Besuche bei Gesandten und Diplomaten aller Ränge, von Audienzen bei regionalen Würdenträgern und des pflichtbewussten Besuchs von Sehenswürdigkeiten. Doch auch hier zeigt sich der Reisende als ein Mann des Übergangs. Hat je ein Adeliger ein solch gigantisches Reisepensum über vier Erdteile mit einer derart ausschweifenden Lektüre synchronisiert: Montaigne und Faust II; Homers Odyssee und Nietzsche; Dickens, Kipling, Lessing und Wordsworth; Thackeray, Herbert Spencer und Zola; Schopenhauer, Taine und Shakespeare; Stirner, Hauptmann und Ibsen … Das alles ohne Taschenbuchausgaben, und ohne dass man den Reisenden je über das Geschleppe klagen hören würde – bis man (ganz diskret) von farbigen Dienern erfährt, die sich tränenreich verabschieden. 
 
«Malerisch» ist eines der häugsten Attribute, das Kessler Landschaften, Städten und Szenarien anheftet. Immer übt er sich dann darin, seine Eindrücke von Farben, Formen und Stimmungen so genau wie möglich zu xieren, was unschwer als die Umsetzung eines Programms zur Erziehung der eigenen Sinnlichkeit zu erkennen ist. Schon bevor er Monet und Renoir kennen lernt, abstrahiert er seine Eindrücke auf Farb- und Formwerte. Wie Peter Altenberg zur selben Zeit entdeckt er den abstraktiven Minimalismus asiatischer Kunst, und wie dieser ahmt er ihn stilistisch in einer pittoresken Prosa nach. Dass er mit einem Fotoapparat reiste und seine Eindrücke auch in bildlicher Form festhielt, geht aus dem Tagebuch hervor. Der Druck des Tagebuchs enthält zwar Faksimiles der Handschrift, jedoch keine fotograschen Abbildungen; leider fehlt ein erklärendes Wort der Herausgeber.
 
Kein Zweifel, Kessler hat seine Lektüren, die fotograschen Aufnahmen und seine Tagebucheinträge während der Weltreise Anfang der neunziger Jahre als «Arbeit» im emphatischen Sinn zu betreiben versucht, die Empfänglichkeit für sinnliche Eindrücke bildet er zum Fundament seiner Berufstätigkeiten aus. Kessler ist begabt darin, Menschen und Begebenheiten aus der Wahrnehmung physiognomischer und anekdotischer Beobachtungen intuitiv zu erfassen. Hippolyte Taine wird sein Gewährsmann, um solche individualistisch gewonnenen Daten auf «Stämme», «Völkerschaften» und «Rassen» hochzurechnen. Dass Kessler später als «Roter Graf» verschrien und wegen seines Pazismus und Republikanismus denunziert wurde, geht auf seine Gleichgültigkeit gegenüber Ansichten und Ideologien von Individuen zurück. In seinen Tagebüchern referiert er sie so kommentarlos nüchtern, dass man oft nicht unterscheiden kann, ob er sie als eigene Meinungen oder solche seiner Gesprächspartner wiedergibt. Wie kommt so einer und unter solchen Umständen zu einem bürgerlichen Beruf? Gar nicht.
Wissenschaft als Beruf hat der  Dr. iuris Kessler nicht akzeptiert, die Politik ebenso wenig. Zwar ist er zeitweilig Präsident der Deutschen Friedensgesellschaft, macht sich wie Rathenau Gedanken um einen «Völkerbund» und bewirbt sich um ein Reichstagsmandat – alles vergeblich, doch immer ohne viel Aufhebens.
 
In den neunziger Jahren war ihm sein Engagement für «Pan», die hervorragende deutschsprachige Kulturzeitschrift dieser Zeit, in deren Leitungsgremium er länger wirkte, wichtiger als alles andere. In den zwanziger Jahren ndet er in der 1913 gegründeten Cranach-Presse – eine auf hohem Niveau betreute Publikationsfolge eines Kanons europäischer Literatur – Entschädigung für alle politischen Enttäuschungen. Seinen Beruf hat Kessler letzten Endes nicht darin gesehen, Ansichten und Überzeugungen als Akteur in Politik und Kultur geltend zu machen. Seine eigentümliche Begabung lag vielmehr darin, Wahrnehmungen mitzuteilen und Urteile zu registrieren, abzuwägen und weiterzugeben, als selbstbewusstes Medium sozusagen.
 
Ekel vor Gefühlsergüssen

Eine intellektuelle Heldentat ist das nicht. Literarisch und kulturgeschichtlich hoch ergiebig aber sind die Einträge über Personen, denen der Autor contre cœur und contre la doctrine de Monsieur Taine höchstens individuell impressionistischen Wert zuerkennen kann: die glänzenden Portraits von Verlaine und William Morris, von Liebermann und Menzel sowie des George-Trabanten Derleth. Kabinettstücke sind schließlich auch die vielen Bildbeschreibungen von Inkunabeln europäischer Galerien, deren Prägnanz offensichtlich der besondere Ehrgeiz Kesslers gilt.

Seine Meinungen klingen allerdings gelegentlich präpotent und albern: «Das eigentlich Gemeinsame der ganzen neueren Richtung der heutigen Malerei ist die Impotenz der Phantasie, die sich bald in genauester Copierung der Wirklichkeit und bald in unfruchtbarem Toben zeigt.» Kessler ist dabei aber nicht stehen geblieben. Immer folgen solchen Verdikten verlegen formulierte Revisionen. Am Ende ndet der Autor seinen Stolz darin, genauer als andere hingesehen zu haben: «Auch die Schamhaftigkeit, mit der wir unsere Gefühle vor fremdem Einblick schützen, der Ekel, mit dem uns Gefühlsergüsse, als seien sie gewissermaßen wider den natürlichen Anstand, erfüllen, sprechen für die Einzigartigkeit des Gefühlslebens.» (18.9.94) Als Dandy seines eigenen, des 20. Jahrhunderts, hat Kessler diesen Befund nicht weiter kommentiert. Warum auch.


Harry Graf Kessler
Das Tagebuch 1880–1937. 2. Band: 1892–1897
Hg. von Roland S. Kamzelak und Ulrich Ott. 
Klett-Cotta, Stuttgart 2004. 760 S., 58 €

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