lesen: Journal - Nie aussetzende Schocks

«Elender Krieg»: Jacques Tardi übersetzt die unerbittlichen Gemetzel von 1914 in den Rhythmus von Bildern und Texten

Auf den Kornfeldern blühen die Blumen, es ist Sommer.

Malerisch liegen die Soldatenleichen in der duftenden Natur verstreut, Schwärme von Raben picken ihnen glücklich das Gedärm aus den geöffneten Bäuchen. So idyllisch sieht der Anfang der Geschehnisse aus, von denen Jacques Tardi in seinem Comic «Elender Krieg» erzählt: der erste von zwei Bänden über den Ersten Weltkrieg, der von der Schlacht an der Marne bis zu den Stellungskriegen bei Verdun und an der Somme reicht. Ihre ersten Scharmützel liefern sich die Boches und die Poilus, die Deutschen und die Franzosen, in den wogend-bunten Kornfeldern der nordfranzösischen Picardie. Doch deren Farbe verlischt schnell. Je länger der Krieg dauert, je tiefer sich die gegnerischen Armeen in ihren Schützengräben verrennen, desto stärker weichen Blumenrot und Himmelsblau, bis bloß noch fahle Totentöne bleiben. Wirken die ersten Bilder wie zynische Pastiches der bukolischen Landschaftsmalerei, gerät nun die subjektive Perspektive der Kämpfenden ins Bild: Nicht mal das Feuer der Explosionen, das Blut der zerfetzten Körper vermag in den müden Augen der Überlebenden 1916 noch einen kraftvollen Sinnesreiz auszulösen. Und da ist der Krieg noch lange nicht vorbei.

Im Ersten Weltkrieg hat Jacques Tardi sein Lebensthema gefunden. Ihn umkreist er, seit er in den siebziger Jahren seine ersten Comics verfasste. In der Serie «Adèles ungewöhnliche Abenteuer» entwarf er ein fantastisch-realistisches Stadtpanorama des Paris der 1910er Jahre, in dem der Technik-Optimismus der Belle Époque allmählich von den Schatten der heraufziehenden Katastrophe verdunkelt wird. Später illustrierte er Louis-Ferdinand Célines Weltkriegs-Romane «Reise ans Ende der Nacht» und «Casse-pipe» und wandte sich schließlich der detailgetreuen historischen Aufarbeitung der Geschehnisse zwischen 1914 und 1918 zu.

Doch so akribisch er dafür die Schauplätze und Stellungsverläufe, Uniformen und Waffengattungen recherchierte, so konsequent löste er zugleich das erzählerische Nacheinander der konventionellen
Geschichtsschreibung auf. Wer in den Terror der Materialschlacht gerät, in den jahrelangen Stillstand des Stellungskrieges, hat bald kein Empfinden mehr für die vergehende Zeit, für Vorher und Nachher, Anfang und Ende. In «Soldat Varlot» (1999) verflocht Tardi die vergeblichen Versuche eines Soldaten, von der Front zurück in die Zivilisation zu entkommen, zum narrativen Zirkel eines unentrinnbaren Fatalismus. In «Grabenkrieg» (1993) montierte er eine Vielfalt verschiedener und doch am Ende entsetzlich gleicher Soldatenschicksale zu einem Prisma des Kriegsgrauens, in dem unermüdlich zwischen Orten und Zeiten gesprungen wird, von den endlosen Wintern im Schützengraben zurück zur pathetisch-patriotischen Kriegsbegeisterung im Sommer 1914 und wieder voran in die für jeden Einzelnen längst besiegelte Zukunft.

Auch in «Elender Krieg» nutzt Tardi die Erzählweise des Comic – die rhythmisch variable Verschränkung von Bildern und Texten –, um das Zeit-Erleben im Krieg, die Abstumpfung durch die niemals aussetzenden Schocks in Szene zu setzen. Dabei folgt er diesmal auf den ersten Blick dem Muster des Geschichtsromans: Nach einem Szenario des Historikers Jean-Pierre Verney (der den Band zugleich durch ein ausführliches Nachwort ergänzt), rekapituliert Tardi die Chronologie des eskalierenden Krieges. Doch so stoisch er auch den unaufhaltsamen Gang in die Katastrophe zu illustrieren scheint, so vielstimmig spricht es aus seinen Bildern. Ein Ich-Erzähler, der als Figur nur selten im Bild, aber immer anwesend ist, subjektiviert das Gezeigte mit Kommentaren aus der Gegenwart, der Zukunft und der Vergangenheit. Ins schlimmste Gemetzel werden die weihevollen Lobreden montiert, die Politiker, Generäle und Dichter im Jahr 1914 auf den kommenden Krieg halten.

In hellem Kontrast zur skrupellosen Kriegstreiberei dieser «alten Männer» (Tardi) steht die bleibende Fassungslosigkeit der geopferten Kämpfer. Mit ihren weichen, rundlichen Gesichtern und den stets etwas zu großen Händen erscheinen sie bis zum letzten Moment auf Hoffnung weckende Weise unfertig, unausgewachsen. Umso drastischer die in Schockstarre einfrierenden Bilder – in denen die Köpfe dieser großen Kinder von den Rümpfen gerissen werden, ihre Bäuche platzen und ihre Gedärme ausquellen, einer nach dem anderen, Millionen und Abermillionen.

 

Jacques Tardi, Jean-Pierre Verney
Elender Krieg. 1914 – 1915 – 1916
Aus dem Französischen von Martin Budde.
Edition Moderne, Zürich 2009. 67 S., 19,80 €

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