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(picture alliance) Richard Ford

Pulitzer-Autor Richard Ford - Mythen aus God‘s own Country

Der Schriftsteller Richard Ford hat einen existenzialistischen Roman über einen verwaisten Jungen geschrieben. Sein Werk „Kanada“, das in den Weiten der USA beginnt, könnte schon bald zu den großen amerikanischen Legenden gehören

Das Wort „Wahrheit“ erhellt wie eine flackernde Leuchtreklame diesen Roman, der mit einem Schlag in die Magengrube beginnt. „Zuerst“, so lautet der erste Satz, „will ich von dem Raubüberfall erzählen, den meine Eltern begangen haben. Dann von den Morden, die sich später ereigneten.“ Damit ist alles verraten, aber noch nichts über die Wahrheit gesagt – nicht gesagt nämlich ist, welche moralischen Wirrnisse, Hohlräume, Fallen auf den folgenden 460 Seiten beschrieben werden. Richard Ford erzählt hier aus der Perspektive zweier Lebensabschnitte: Die fortlaufende Handlung, die sich während ein paar Monaten des Jahres 1960 ereignet, hat der 15-jährige Dell erlebt. Der zweite Erzähler ist Dell als reifer Mann, der als Lehrer gewirkt, viel nachgedacht und darüber eingesehen hat, dass die meisten großen Fragen des Lebens nicht zu beantworten sind. Warum das so ist? Weil es zu viele Menschen gibt, deren Leben in der Luft hängt – Dells Eltern gehörten dazu.

Richard Fords „Kanada“ ist ein ergreifendes und fesselndes Buch, es gehört ins Repertoire großer amerikanischer Legenden. Die geballte Mythenladung aus God's own Country wird vor wechselnden, immer schäbigen Haustüren abgeladen. Schuld und Sühne, Glaube und Unglaube werden vom 1944 geborenen Pulitzer-Preisträger Ford mit raffiniertem, teils genialem Gespür auf ein schicksalsgeprüftes Personal verteilt. Dabei wird das Bild einer von Mormonen, Adventisten und anderen Sektenmitgliedern durchzogenen Gesellschaft ausgebreitet, an deren Rändern sich die Parsons, Dells Eltern, irgendwie durchboxen. Was allerdings, seit Dells Vater Bev bei der Air Force ausgeschieden ist, immer weniger funktioniert.

Dynamische Sorgfalt verwendet Richard Ford auf die Darstellung dieser Familie, die aus vier nicht zusammengehörigen Pfeilern zu bestehen scheint: Bev, ein großer, charmanter Südstaatler, mit Stiefeln und Schlangenledergürtel, wenn er nicht gerade seinen alten Air Force-Anzug trägt. Seine kleingewachsene Frau, polnischjüdischen Ursprungs, ist hurtig, effizient, aber an der Seite dieses Mannes schlichtweg die falsche Besetzung: Sie liest französische Gedichte und ist Lehrerin. Dell und seine Schwester Berner schließlich sind zweieiige, in ihrem Wesen grundverschiedene Zwillinge. Berner ist draufgängerisch, Dell ängstlich und duldsam. Sex übrigens kommt in diesem Buch nicht vor, abgesehen von einer Inzestszene, die Berner „belanglos“ nennt und die Dell schnell wieder vergessen soll.

Seite 2: Eine Jugend in der kanadischen Provinz

Der stümperhafte Bankraub, ohne Blutvergießen und ohne fette Beute, wird die Eltern ins Gefängnis bringen. Für die Kinder bedeutet dies zwangsläufig die Neuerfindung ihrer Existenz. Berner brennt nach Kalifornien durch, der brave Dell aber traut sich das nicht zu und wird über die Grenze nach Kanada gebracht. Arthur Remlinger betreibt dort in einem Prärieort westlich von Alberta ein Provinzhotel, hier kommt Dell gegen harte Arbeit unter. Remlinger ist ein rätselhafter Charakter, ein verkrachter Harvardstudent, der seinen Dünkel durch entsprechende Kleidung unterstreicht und seinen Fatalismus in Fragen zusammenfasst wie: „Wofür lebe ich? Nur um alt zu werden und zu sterben?“ Das Wetter und die Verlassenheit der Gegend, berühmt für die Gänsejagd und ein lausiges Klima, beschreibt Ford mit atmosphärisch aufgeladener Plastizität – wenn er in seinem Nachwort den Autor William Maxwell als Kronzeugen dieser Art des Erzählens benennt, hätten eigentlich auch William Gass’ Roman „Pedersens Kind“ und Carson McCullers’ „Ballade vom traurigen Café“ nicht fehlen dürfen.

Der sich selbst überlassene Dell, dem schnell die Gedanken an die in Great Falls, Montana, festgenommen Eltern entschwinden, ist ein denkender Beobachter. Seine Schweigsamkeit erklärt er mit dem Satz: „Ich spreche nicht, mich fragt ja keiner.“ Dieser Junge, der sich für alles andere interessiert als für das, was ihm begegnet, übt sich selbst in ein „umgekehrtes Denken“ ein und stellt damit sowohl die Frage nach der Wahrheit wie auch die Tat der Eltern auf den Kopf: Dell ist ein Schachspieler gegen sich selbst, ein Wahrheitszweifler und Antipathetiker. Mit Verlusten klarzukommen, wird für ihn zur Voraussetzung von Fortschritt und Zukunft. Richard Ford, gerühmt für seinen dirty realism, zeigt sich in „Kanada“ als ausgeprägter Pragmatiker. Seine Figur Dell ist kein Leidender, sondern ein Erkennender. Intuitiv entwickelt er seinen Überlebenswillen aus seiner Fähigkeit, Verluste hinzunehmen und zu überwinden. Entwickelt wird die Lebensgeschichte dieses Jungen detailstark, bildreich, einprägsam und wortgenau – ein kluger, lesenswerter Roman, den Frank Heibert überzeugend übersetzt hat.

Richard Ford: Kanada. Roman. Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert. Hanser Berlin, Berlin 2012. 464 S., 24,90 €

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